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Sein volles Potenzial entfalten, die beste Version von sich selbst sein: Diese Ziele verfolgen Menschen unter dem Schlagwort Selbstoptimierung.

Bewusster leben, mehr auf das Bauchgefühl hören und endlich einen Plan haben – so könnte man die Bestrebungen der letzten Monate von Julia Pechlaner, 21, zusammenfassen. Sie ist in der Einkaufsabteilung eines Detailhändlers tätig und seit rund einem Jahr in einer Community, die nach dem Motto «be your best» lebt. Das Ziel ist, sich jeden Tag um ein Prozent zu steigern – sei es im Bereich Ernährung, Persönlichkeit, Gesundheit oder Umgang mit Geld. «Vorher hatte ich keine Routinen, lebte einfach vor mich hin», erzählt die junge Zürcherin. «Heute stehe ich immer um die gleiche Zeit auf und investiere morgens eine halbe Stunde in persönliche Rituale.»

Sie schreibt auf, wofür sie dankbar ist, weil Dankbarkeit eines der schönsten Gefühle überhaupt sei und sie sich damit einen positiven Start in den Tag ermögliche. Sie liest Bücher und hört Podcasts, um ihren Horizont zu erweitern. An ihrem «Money-Mindset» arbeitet Julia, damit sie ihre Finanzen im Griff hat und nicht wie so viele Gleichaltrige in Konsumfallen tritt. Um eine vollwertige Ernährung zu erreichen, greift sie auf Früchte-Gemüse-Kapseln und Powerfood in Pulverform zurück. Ist sie glücklicher als früher? «Ich bin erfüllter.» Selbstoptimierung sei für jeden ein individueller Prozess, sagt sie.

«Heute stehe ich immer um die gleiche Zeit auf und investiere morgens eine halbe Stunde in persönliche Rituale.»
Julia Pechlaner

Ergebnisse spornen an

Auch Roman Rickenbacher möchte an sich arbeiten, weil er dadurch eine bessere Haltung zum Leben entwickelt hat, Selbstvertrauen gewinnt und Unsicherheiten abbaut. «Wenn ich innerlich zufrieden bin, dann strahle ich das aus», sagt der 24-jährige Bankmitarbeiter aus Einsiedeln, der berufsbegleitend Wirtschaft studiert und nebenbei ein bisschen modelt.

Als vor einigen Jahren der Fitnessboom auch in seinem Umfeld aufkam, begann Roman, sich damit auseinanderzusetzen. Mittlerweile macht er Fitness, fährt Kanu, spielt Badminton, geht joggen, skifahren, langlaufen, ist aktiv im Fussballclub dabei. «Die Ergebnisse spornen mich an, wecken die Lust am Wettbewerb mit anderen. Ich bin relativ ehrgeizig und kann nicht gut verlieren. Bis zu einem gewissen Mass finde ich das in Ordnung: So erreicht man etwas und kann sich verbessern.» Schulisch, sportlich, beruflich – es soll immer einen Schritt weitergehen. Wozu auch stehenbleiben? Er arbeitet schliesslich nicht so hart, nur um dann seine Ziele nicht zu erreichen.

«Wenn ich innerlich zufrieden bin, dann strahle ich das aus.»
Roman Rickenbacher

Mensch als Ressource

Selbstoptimierung ist ein Zeichen unserer Zeit, in der Individualismus wichtiger ist als das Kollektiv. In der die neuen Medien Perfektion vortäuschen, wir uns als Gesellschaft über Erfolg und Leistung definieren. Ein Trend, dem offensichtlich eher jüngere Menschen folgen – der aber eigentlich im Widerspruch zu einer gewissen Planlosigkeit liegt, die jungen Menschen heute ebenfalls gerne vorgeworfen wird.

Was für die einen ein Segen, ist für die anderen ein Fluch, der archaische Ängste hervorruft: Der Mensch als Ressource: vermessbar, rückverfolgbar, in unendlichem Masse verbesserbar. Mithilfe von Apps können wir Schritte und Kalorien zählen, den Schlaf überwachen und Leistungen dokumentieren. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das ehemalige Fitnessmodel Anja Zeidler. Ihr Streben nach einem besseren Ich führte zu Essstörungen, Anabolikamissbrauch und Fitnesssucht. Mittlerweile zeigt sie auf Social Media den Blick hinter die Kulissen dieser Szene und hinterfragt sie kritisch. Das Vögele Kulturzentrum warf vor zwei Jahren in einer Ausstellung zum Thema die Frage auf: «Ist gut nicht gut genug?», die symbolträchtig mit einem (Hamster)rad aufwartete.

Der Anthropologe Eberhard Wolff bezeichnete die kritische Haltung zum Begriff Selbstoptimierung im Wissenschaftsmagazin «Uni Nova» der Uni Basel einmal so: «Mit ihm sollen die schlimmen Auswirkungen einer entfesselten Leistungs-, Wettbewerbs- und Enhancement-Gesellschaft an den Pranger gestellt werden. Jeder müsse ständig daran arbeiten, perfekt zu sein: im Beruf, im Sport, in den Beziehungen, im Aussehen. Vor allem die neuen Tracking-Technologien, die unser Leben quantitativ dokumentieren, gelten als Sündenpfuhle der Selbstoptimierung.» Nur um dann mit einem Augenzwinkern hinzuzufügen: «Wie viele Menschen kennen Sie, die marionettenhaft jeden Schritt, jede Kalorie, jede Gemütsbewegung, ihren Puls, Blutdruck und Blutzucker messen und sich dabei ständig verbessern wollen?» Bekanntlich wenige.

Keinen Druck ausüben

Selbstoptimierung ist vermutlich so lange ein guter Wegbegleiter, als er aus innerer Überzeugung erfolgt und mit positiven Erlebnissen in Verbindung steht. Bereits der Dalai-Lama lebte nach der Prämisse: Sei der beste Mensch, der du sein kannst. Sobald aus dem Ansporn aber ein Druck wird, aus den Zielen ein Zwang, kann sich die positive Grundhaltung ins Gegenteil kehren. «Wenn man zu strikt mit sich selber ist, kann aus gesund durchaus ungesund werden», findet Julia Pechlaner. Ihr ist deshalb wichtig, keinen Druck auf sich selber auszuüben und dass gerade zu einer ausgewogenen Ernährung auch mal Chips oder Pizza dazugehören. Für Roman Rickenbacher sind Misserfolge keine Schmach, sondern Antrieb. Wichtig sei letztlich die Balance: «Ich möchte mein Leben aus Familie, Kollegen, Beruf, Studium und Sport einfach unter einen Hut bringen.» Das bedeutet, auch Schwächen zu akzeptieren und die Dinge einfach mal gut sein zu lassen.

«Ich möchte mein Leben aus Familie, Kollegen, Beruf, Studium und Sport einfach unter einen Hut bringen.»
Roman Rickenbacher

«Wer nie zufrieden sein kann, hat die Grenze überschritten»

Menschen, die sich selbst optimieren, möchten sich weiterentwickeln und ihr Potenzial nutzen. Was ist Ihre Haltung dazu?

Prinzipiell neigen wir alle dazu, uns verwirklichen zu wollen. Das finde ich begrüssenswert. Das Sich-Optimieren hat in den letzten Jahren noch eine andere Bedeutung bekommen: Da geht’s mehr um das Verbessern von Kleinigkeiten in vielen Lebensbereichen. Und hier gibt es auch Skepsis, ob das noch so gut ist.

Wann kann es gefährlich werden?

Solange es unverkrampft und mit Freude ist, kann Selbstoptimierung nicht so schlecht sein. Wenn ich mich laufend mit anderen vergleiche und mich dabei gestresst fühle, wird es problematisch. Wer letztlich nie zufrieden sein kann, hat die Grenze wohl überschritten.

Warum hat der Trend zur Selbstoptimierung zugenommen und welche Rolle spielt Social Media dabei?

Es gibt sicherlich viele Gründe. Ich würde es als Mischung bezeichnen zwischen der Freude, die besseren Seiten von sich zu entdecken und der Furcht, in einem ewigen Wettkampf zu sein. Wir sehen ja in Sendungen, auf Social Media, in Vorher-Nachher-Beispielen und so weiter: Es wären bessere Versionen von uns möglich. Und damit stünden wir angeblich besser im Leben. Die sozialen Medien spielen dabei sicher eine grosse Rolle, weil man die Posts des anderen «liken» kann – ein virtuelles Auf-die-Schulter-klopfen mit Suchtfaktor.

Generell setzt Selbstoptimierung eine gewisse Ich-Zentriertheit voraus. Werden wir egoistischer?

Sich selbst ins Zentrum zu rücken und sich als veränderbar zu erleben, ist sicher eine Grundlage der Selbstoptimierung. Ob das generell Egoismus fördert, würde ich bezweifeln.

Veröffentlicht am: 27.01.2021

Willibald Ruch
Ist Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Uni Zürich.

Weitere Informationen

Autorin

  • Rahel Lüönd

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