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«Der Druck in der Arbeitswelt hat zugenommen»

    Die Arbeitnehmenden sind in immer kürzeren Zeitintervallen mit Umstrukturierungen konfrontiert. Und oft können sie sich nicht mehr auf eine klare Strategie verlassen, sagt Carla Weber.

    Nach achteinhalb Jahren als Psychologin beim Kaufmännischen Verband: Lässt sich so etwas wie ein Fazit ziehen?

    Als ich 2010 angefangen habe, war die Psychologische Beratung zunächst einmal nur ein Projekt. Zuvor hat es das nicht gegeben. Ich habe das dann nach und nach aufgebaut, wobei der Schwerpunkt bei der Krisenberatung liegt. Eine solche muss niederschwellig sein. Wir können den Leuten kurzfristig einen Termin anbieten. Das ist in der Krisenberatung wichtig. Und heute kann ich sagen: Es funktioniert. Das Bedürfnis ist klar ausgewiesen. Es kommen diejenigen Klienten, an die sich das Angebot explizit richtet. Das waren in diesen Jahren immerhin über 800 Mitglieder.

    Was sind das für Klienten?

    Ganz generell gesagt sind das Leute, die ein komplexes Problem mit sich herumtragen und damit nicht mehr weiterkommen. Meistens haben sie schon einiges probiert und sind zum Schluss gekommen, dass sie es alleine nicht schaffen. Sie können bis zu fünf Sitzungen in Anspruch nehmen und meistens gelingt es, dass sie während dieser Zeit wieder Zugang zu den eigenen Ressourcen finden. Und natürlich gibt es auch Klienten, die eine weiterführende ambulante oder stationäre Therapie in Anspruch nehmen müssen.

    Welches sind häufige Probleme?

    Oft geht es um konkrete Konflikte am Arbeitsplatz – Mobbing oder Bossing zum Beispiel. Oder es kommen Leute, gerade auch viele Ältere, welche die Kündigung bekommen haben, oder denen eine Frühpensionierung nahegelegt wurde. Oft waren sie während Jahren oder Jahrzehnten beim gleichen Arbeitgeber tätig und hätten niemals mit so etwas gerechnet. Ausserdem kommen Überforderung, Depression und Burn-out häufig vor. Rückkehr an den Arbeitsplatz nach langer, krankheitsbedingter Abwesenheit ist auch oft ein Thema.

    Was hat sich in den letzten Jahren am meisten verändert?

    Der Druck und das Tempo in der Arbeitswelt haben deutlich zugenommen. Die Arbeitnehmenden sind in immer kürzeren Zeitintervallen mit Umstrukturierungen und damit auch mit neuen Vorgesetzten konfrontiert. Oft können sie sich auch nicht auf eine klare Strategie verlassen. Was gestern noch galt, ist heute schon Makulatur. Und was ebenfalls zugenommen hat: Dass auch Leute um die 60 noch entlassen werden. Früher gab es so etwas wie eine ungeschriebene Regel, wonach man Angestellte in diesem Alter bis zur Pensionierung weiterbeschäftigt hat. Heute scheint das nicht mehr zu gelten.

    Spielt die Angst vor Stigmatisierung noch immer eine Rolle bei der Frage, ob jemand Hilfe in Anspruch nehmen will?

    Nach wie vor ist es für sehr viele Menschen eine recht hohe Hürde. Das Angebot des Kaufmännischen Verbandes ist insofern niederschwellig, als potenzielle Klienten bereits einen Bezug zum Verband haben und diesem auch vertrauen. Ausserdem ist es eine vom Arbeitgeber unabhängige Stelle.

    Gibt es Geschichten von Menschen, an die Sie sich besonders gern erinnern?

    Natürlich war es für mich immer sehr erfreulich, wenn jemand aus einer fast hoffnungslosen Situation heraus wieder eine Stelle gefunden hat. So zum Beispiel eine Frau, die kurz vor der Aussteuerung stand und dann eine neue Arbeit fand, die ihr sogar noch mehr entsprach als die vorhergehende. Mehrmals habe ich miterlebt, wie auch über 60-Jährige nach langer Arbeitslosigkeit wieder Tritt im Arbeitsleben gefasst haben. Das Schöne an der Arbeit hier ist, wenn man dazu beitragen kann, dass Menschen die Hoffnung und die Motivation nicht aufgeben. Oft geht es auch um Würde. Da kommt mir eine Frau in den Sinn, welche mit 59 die Kündigung mit sofortiger Freistellung erhalten hat und sich gesagt hat: Ich veranstalte trotzdem einen Apéro und will mich in würdigem Rahmen von meinen Kolleginnen und Kollegen verabschieden.

    Fangen Probleme häufiger am Arbeitsplatz an und gehen dann auch aufs Privatleben über, oder eher umgekehrt?

    Es gibt beides. Und es ist eine Frage der zeitlichen Abfolge. Wenn jemand am Arbeitsplatz in eine Burn-out-Spirale gerät und in seinem privaten Umfeld Unterstützung erfährt, dann kann das relativ lange gut gehen. Gerät dann aber auch das Privatleben in Schieflage – durch eine Scheidung beispielsweise – dann kann auch die Situation am Arbeitsplatz rasch eskalieren. Nehmen wir anderseits das Beispiel einer Person, die über längere Zeit und in hohem Masse in die Betreuung und Pflege eines schwer kranken Kindes involviert ist: Diese wird irgendwann am Arbeitsplatz nicht mehr voll leistungsfähig sein und auch dort in Schwierigkeiten geraten.

    Eine besondere Rolle, damit jemand mit psychischen Problemen im Unternehmen bleiben kann, kommt den Vorgesetzten zu. Sind diese genügend sensibilisiert dafür?

    Ich höre immer wieder von Vorgesetzten, die sich sehr für ihre Mitarbeitenden in schwierigen Situationen einsetzen, und die sich bestimmt auch im Rahmen einer Aus- oder Weiterbildung mit der Problematik befasst haben. Dann gibt es aber auch solche Chefs, die damit völlig überfordert sind. So hat mir zum Beispiel ein Klient von einem Gespräch mit seiner Vorgesetzten erzählt, während dem ihm diese einen Ordner in die Hand drückte mit Unterlagen zum Thema psychische Probleme, die sie im Rahmen ihrer Führungsausbildung erhalten hatte. – Und damit stand er dann da! Es stimmt schon: Dem direkten Vorgesetzten kommt eine grosse Bedeutung zu. Aber es muss auch von ganz oben vorgelebt werden. Wenn mir Klienten von Mobbingsituationen an ihrem Arbeitsplatz berichten, gehe ich manchmal auf die Webseite des entsprechenden Unternehmens und lese dort: Bei uns steht der Mitarbeiter im Mittelpunkt. Doch das bedeutet gar nichts. Es kommt auf die im Alltag praktizierte Kultur an.

    Wenn jemand länger abwesend ist vom Arbeitsplatz: Was ist wichtig, dass der Wiedereinstieg gelingt?

    Neben dem Vorgesetzten spielt auch das Team eine wichtige Rolle. Teammitglieder sind in der Regel bereit, während einer gewissen Zeit zusätzliche Arbeiten zu übernehmen. Aber nicht allzu lange, denn die meisten Teams stehen ohnehin schon unter Druck. Nach einer gewissen Zeit kippt der Goodwill in Ressentiments. Es gibt Fälle, wo allein aus diesem Grund eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist. Letztlich sind auch da die Vorgesetzten gefordert: Sie sollten rechtzeitig eine Temporärkraft einstellen, um das Team zu entlasten und Ressentiments entgegenzuwirken.

    Carla Weber
    Carla Weber (64) hat die Psychologische Beratung beim Kaufmännischen Verband aufgebaut. Ende Dezember 2018 ging sie in Pension. Ihre Nachfolgerin ist Brigitte Hiestand.

    Autorin

    • Therese Jäggi

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