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«Die Grundlage für Stabilität ist der Dialog»

Knapp zwanzig Jahre nach dem Generalstreik wurde der erste GAV ausgehandelt und damit der Grundstein für die Sozialpartnerschaft gelegt. 1911 wurde sie im Gesetz verankert und erlebte mit dem Friedensabkommen von 1937 ihren ersten Aufschwung in der Maschinenindustrie. Bis heute ist der Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden fester Bestandteil der Schweizer Wirtschaft und wird auch in Zukunft eine wichtige Funktion haben, ist Caroline Schubiger, Leiterin Beruf und Beratung beim Kaufmännischen Verband, überzeugt.

Gibt es eine Verbesserung im Rahmen einer GAV-Verhandlung, über die Sie sich in letzter Zeit besonders gefreut haben?

Caroline Schubiger: Ja, im Rahmen der Verhandlungen über die Vereinbarung der Anstellungsbedingungen der Bankangestellten (VAB) haben die Sozialpartner (Kaufmännischer Verband, Arbeitgeber Banken und Schweizerische Bankenpersonalverband) das Projekt «skillaware» entwickelt. Hierbei handelt es sich um die erste sozialpartnerschaftliche Sensibilisierungskampagne der Schweizer Bankenbranche, welche Mitarbeitende dazu animiert, ihre Grundkompetenzen und Arbeitsmarktfähigkeit zu evaluieren. Das grosse Interesse an der Online-Selbstevaluation (über 8000 Teilnehmende) und der intensive Austausch mit den Banken haben gezeigt, dass der Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit ein zentrales Anliegen für den Bankenplatz Schweiz ist. Die Sozialpartner haben mit «skillaware» einen Kulturwandel in der Bankenbranche angestossen.

Ganz generell: Worin unterscheidet sich ein Arbeitsverhältnis im Rahmen eines GAV von einem Einzelarbeitsverhältnis?

Beim GAV werden die Arbeitsbedingungen kollektiv für eine Gruppe ausgehandelt, während der Einzelarbeitsvertrag die Bedingungen individuell zwischen der Arbeitgeberin und dem Arbeitnehmenden regelt. Bedingungen, die man für ein Kollektiv aushandelt, können schon mehr Gewicht haben und auch zu besseren Resultaten führen, denn ein solches Kollektiv kann sehr viele Mitarbeitende umfassen. Dem einzelnen Arbeitnehmer bietet ein GAV transparente und faire Anstellungsbedingungen und damit Rechtssicherheit und Stabilität – sowohl für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer. Ein GAV bietet damit auch Vorteile für Arbeitgeber.

Was ist ein GAV?
Die Sozialpartner – Unternehmen oder Arbeitgeberverbände einerseits, und Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften anderseits – handeln Gesamtarbeitsverträge (GAV) aus. Ein GAV regelt die Arbeitsbedingungen für eine Branche oder ein Unternehmen für die ganze Schweiz oder für eine Region. Mit einem GAV können für die Arbeitnehmenden im Vergleich zu den gesetzlichen Vorschriften bessere Anstellungsbedingungen vereinbart werden.

Welches sind die häufigsten Themen und Anliegen während GAV-Verhandlungen?

Oft geht es um Löhne, Arbeitszeit, Flexibilisierung, Ferien sowie Aus- und Weiterbildung. Ein neueres Thema sind neue Arbeitsformen wie zum Beispiel Franchising oder Gig-Worker. Dabei übernehmen Mitarbeitende einen beträchtlichen Teil des unternehmerischen Risikos. Solche Arbeitsformen gibt es immer mehr. Hier ist es unser Ziel, die Mitarbeitenden insbesondere bezüglich Lohn und Gesundheit zu schützen. Was auch zunimmt: Arbeitgeber wollen ihre Mitarbeitenden ganz gezielt nur dann einsetzen, wenn viel Arbeit anfällt. Oft stehen diese Flexibilitätsansprüche der Arbeitgeber jedoch im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Mitarbeitenden. Ganz generell geht es in der Sozialpartnerschaft darum, die Ansprüche eines Unternehmens mit denjenigen der Mitarbeiter unter einen Hut zu bringen.

Im OR ist die Rede von der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Wie sieht es damit aus?

Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist im OR verankert und verpflichtet diesen, den Arbeitnehmern Schutz und Fürsorge zu verschaffen und alles zu unterlassen, was ihren berechtigten Interessen entgegenstehen könnte. Wir stellen fest, dass die Umsetzung stark von der Unternehmenskultur abhängt. Es gibt viele Unternehmen, die diesbezüglich vorbildlich sind. Bei anderen ist es mit der sozialen Verantwortung nicht weit her. Es hat sich schon einiges geändert in der Arbeitswelt. Früher hat man sich gegenseitig für ein langjähriges Arbeitsverhältnis verpflichtet. Mitarbeitende wurden weniger schnell auf die Strasse gestellt, wenn es wirtschaftlich schwieriger wurde. Heute sind viele Unternehmen stark umsatzgetrieben und planen nur noch kurzfristig. Teilweise mag dies damit zusammenhängen, dass der Kostendruck zugenommen hat. Fragwürdig ist für uns insbesondere, wenn Unternehmen Leute trotz Riesengewinn und Dividendenausschüttung entlassen. Insbesondere in der aktuellen Situation in Verbindung mit Kurzarbeit ist es für uns fragwürdig. Hier wünschen wir uns mehr soziale Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden und dem Standort, wo man etwas aufgebaut hat.

Wie steht es um die Bereitschaft der Unternehmen, ihre Mitarbeitenden weiterzubilden?

Auch da würden wir uns oft etwas mehr Verbindlichkeit wünschen. Wir hören von manchen Arbeitgebern ein Bekenntnis zu Weiterbildung, doch zu etwas Konkretem verpflichten wollen sie sich dann doch nicht. Uns ist klar, dass beide Seiten – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – in der Verantwortung sind. Eine Regel wie zum Beispiel «Jeder hat Anspruch auf fünf Tage Weiterbildung» ist nicht ideal. Vielmehr ginge es darum, sich regelmässig zu fragen, welche Fähigkeiten in Zukunft im Arbeitsmarkt gebraucht werden und die Leute entsprechend frühzeitig zu befähigen.»

Bei manchen Verhandlungen sitzen Sie mit Vertretern von Gewerkschaften am Tisch. Wie läuft die Zusammenarbeit?

Der Kaufmännische Verband wie auch andere Angestelltenverbände vertreten typischerweise nicht die gleiche Klientel wie klassische Gewerkschaften. An den Verhandlungen diskutieren wir so lange, bis wir einen Konsens gefunden haben, denn wir haben ein gemeinsames Ziel: etwas Positives für die Arbeitnehmenden zu bewirken. Das ist das Grundsätzliche. Unterschiedlich ist manchmal nur die Herangehensweise.

Welche Bedeutung haben für Sie die Personalkommissionen?

Die PEKOs sind für uns ein wichtiger Partner. Sie nehmen als interner Sozialpartner eine zentrale Funktion als Bindeglied zwischen Mitarbeitenden und uns als externen Sozialpartner wahr. Deshalb sind wir am Austausch mit den Personalkommissionen sehr interessiert. Dadurch erhalten wir wertvolle Informationen und können diese in unser Vorgehen und unsere Forderungen einfliessen lassen. Wir betrachten es als unsere Aufgabe, Mitglieder von PEKOs in ihrer Rolle aktiv zu unterstützen.

Gibt es weitere Möglichkeiten, um die Bedürfnisse der einem GAV unterstellten Mitarbeitenden in Erfahrung zu bringen?

Ja, da gibt es einige. Zum Beispiel mit Filialbesuchen, was wir hauptsächlich im Detailhandel machen. Wir melden uns in der Regel an und können dann mit denjenigen Mitarbeitenden reden, die sich für ein Gespräch interessieren. Aufschlussreich sind für uns auch Mitgliederversammlungen. Ausserdem können wir uns auch in Mitarbeiterzeitschriften vorstellen oder führen schriftliche Umfragen durch.

Welche Funktion hat die Sozialpartnerschaft für die Stabilität in der Schweiz?

Die Grundlage für Stabilität ist der Dialog. Im Rahmen der Sozialpartnerschaft setzen sich Vertreter unterschiedlicher Interessen an einen Tisch. Diese Errungenschaft gilt es zu verteidigen. Die Sozialpartnerschaft balanciert die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus, schafft gegenseitiges Vertrauen und trägt damit wesentlich zur wirtschaftlichen und politischen Stabilität der Schweiz bei.

Haben Mitarbeitende, welche einem GAV unterstellt sind, Anspruch auf individuelle Beratung?

Ja, sofern es um Fragen zur Interpretation oder Auslegung einzelner Aspekte in den GAV oder um kollektive Themen geht. Sobald es jedoch individuelle, arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Konflikte oder weiterführende Beratungen betrifft, ist eine Mitgliedschaft beim Verband Voraussetzung und auch sinnvoll.

Die Sozialpartnerschaft in der Schweiz gibt es jetzt seit einem Jahrhundert. Welche Zukunft hat sie?

Entwicklungen wie die Globalisierung und die Digitalisierung führen zu Unsicherheit bei den Arbeitnehmenden. Ich bin überzeugt, dass die Sozialpartnerschaft gerade im Zusammenhang mit diesen fundamentalen Veränderungen und neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt auch in Zukunft eine wichtige Funktion haben wird. Aber sie muss auf die neuen Entwicklungen reagieren und sich weiterentwickeln.

Erstmals veröffentlicht: 18.10.2018

Letzte Aktualisierung: 30.04.2020

«Die Sozialpartnerschaft balanciert die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus, schafft gegenseitiges Vertrauen und trägt – insbesondere in herausfordernden Zeiten – zur wirtschaftlichen und politischen Stabilität der Schweiz bei.»
Caroline Schubiger

Die GAV des Kaufmännischen Verbandes

Der kfmv ist Sozialpartner in folgenden Branchen:

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