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Die Lust am Lernen wecken

Wer die Weiterbildung selber wählt, lernt lieber. Unternehmen machen erste gute Erfahrungen mit dieser Methode.

Wie die Mitarbeitenden reagieren würden, wusste der stellvertretende HR-Leiter Achim Wolter zunächst nicht. Das Pilotprojekt war mutig: Seit Anfang Jahr können bei der Baloise rund 80 Mitarbeitende zehn Prozent ihrer Arbeitszeit aufwenden, um zu lernen. Den Inhalt bestimmen sie selbst. Die Bedenken waren umsonst, wie er feststellen konnte: «Die Mitarbeitenden sind sorgfältig und achtsam mit dem Angebot umgegangen.»

Entstanden ist das Pilotprojekt, um die Mitarbeitenden des Versicherers zum Lernen zu motivieren. «Für viele ist das Lernen nicht so positiv besetzt. Deshalb drehten wir die Sache um und boten an, zehn Prozent der Arbeitszeit für das Lernen zu verwenden», blickt Achim Wolter zurück. Eine gute Entscheidung, denn per Ende Jahr wird das Angebot auf die ganze Belegschaft in der Schweiz ausgeweitet.

Lust am Lernen

In anderen Unternehmen sind ähnliche Angebote gang und gäbe: Bei 3M oder Google verfügen die Mitarbeitenden über Zeit, die man für eigene Projekte einsetzen kann. «Das ist aber in breiteres Verständnis der Idee. Wir wollen spezifisch die Lust am Lernen wecken», so Achim Wolter. Wichtig dabei sei, dass es keine Verpflichtung ist, sondern freiwillig. Die Reaktion der Mitarbeitenden ist unterschiedlich. «Die einen sind noch vorsichtig und brauchen mehr Zeit, um sich einzudenken, die anderen springen auf und schöpfen aus dem Vollen». Die Bandbreite reicht von fachlichen Weiterbildungen im Versicherungsbereich über kurze Lerneinheiten für das Registrieren von Kundenanfragen bis zum Update der eigenen Excel-Praxis.

«Für viele ist das Lernen nicht so positiv besetzt. Deshalb drehten wir die Sache um und boten an, zehn Prozent der Arbeitszeit für das Lernen zu verwenden.»
Achim Wolter

Gemäss Achim Wolter findet gerade ein Paradigmenwechsel statt: «Früher war es so, dass der oder die Vorgesetze mehr Fachkompetenz hatte und deshalb über die Weiterbildung der Mitarbeitenden entschied.» In der digitalen Welt seien Mitarbeitenden in der Lage, selber am besten einzuschätzen, welche Arbeitstools sie benötigen. Wenn durch diese Freiheit die Eigenverantwortung gefördert werde, sei das ein willkommener Nebeneffekt. Nach wie vor gibt es bei der Baloise aber auch individuelle Entwicklungsziele für die Mitarbeitenden, wofür sie gegen Absprache auch finanzielle Budgets zur Verfügung gestellt bekommen.

Individuelle Entwicklungsziele hält auch Isabelle Zuppiger für unabdingbar. Die selbstständige Arbeits- und Organisationspsychologin und Laufbahnberaterin begrüsst es grundsätzlich, dass Mitarbeitende Zeit für die Weiterbildung zur Verfügung gestellt bekommen. Einen echten Vorteil habe die Weiterbildung aber nur, wenn sie im Rahmen einer gemeinsamen Zielvereinbarung und eines Entwicklungsplanes stattfindet. «Nur so nimmt man Rücksicht auf die bereits vorhandenen individuellen Kompetenzen und kann diese mit den Anforderungen einer Aufgabe abstimmen und auch Aspekte der persönlichen Entwicklung berücksichtigen.»

Erwartungen klären

Der Anspruch, dass Angestellte selber wissen, was sie an Weiterbildung brauchen, sei eine sehr hohe Anforderung. «Diese Haltung geht davon aus, dass die Mitarbeitenden selber wissen, welche Lücken sie haben», so die Arbeitspsychologin. Wer diese Entscheidung selber fällen müsse, könnte sich unter Umständen falsch einschätzen. Besser sei es, die Erwartungen des Unternehmens mit einer HR-Person oder dem Vorgesetzten zu klären. Den Paradigmenwechsel sieht Zuppiger auch, ihrer Meinung nach gibt es diesen vorwiegend in Organisationen, in denen Bildung in einem digitalen Kontext stattfindet.

«Diese Haltung geht davon aus, dass die Mitarbeitenden selber wissen, welche Lücken sie haben.»
Isabelle Zuppiger

Das Digitalunternehmen Liip mit Niederlassungen in mehreren Schweizer Städten setzt seit 2009 auf das freiwillige Lernen. Aber nicht nur. Liip stellt den rund 180 Beschäftigten pro Jahr 100 Arbeitsstunden – rund eineinhalb Tage pro Monat – und 2400 Franken für die individuelle Weiterentwicklung zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es auch Lehrgänge für alle neu Eintretenden, damit alle die agile Organisationsform verstehen: Etwa zu den Themen Selbstkompetenzen, Kritikfähigkeit, Holokratie oder Scrum, ein Vorgehensmodell, das ursprünglich der agilen Softwareentwicklung diente.

Freie Wahl motiviert

Die individuellen Weiterbildung wählen die Mitarbeitenden hingegen in purer Eigenverantwortung. «Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Leute wählen die Weiterbildungen, die für sie am effektivsten sind», bilanziert Co-Founderin Nadja Perroulaz. Idealerweise sollte die Weiterbildung in Relation zur Aufgabe. Die klassischen Programmierer besuchen am liebsten Fachkonferenzen, wo Programmiersprachen oder das gemeinsame Programmieren im Vordergrund stehen. Das Budget wird auch gerne für offizielle technische Lehrgänge an Universitäten oder Fachhochschulen genutzt.

Nadja Perroulaz beobachtet, dass die Mitarbeitenden die motivierende freie Wahl durchs Band schätzen. Manche würden das Angebot voll ausschöpfen, andere aus Zeitgründen weniger, etwa wenn sie gerade Eltern geworden sind. Nadja Perroulaz: «Rund 75 Prozent der Weiterbildungsbudgets werden genutzt ­– mit dieser Zahl sind wir sehr zufrieden.»

«Die Leute wählen die Weiterbildungen, die für sie am effektivsten sind.»
Nadja Perroulaz

Sina Simon (34): Competence Leader Ausbildung bei der Baloise

«Ich reserviere mir für das Lernen keine festen Zeiten, sondern entscheide oft spontan, ein Lernvideo in den Arbeitstag zu integrieren. Es ist toll, wenn man kein schlechtes Gewissen haben muss, dass man am Arbeitsplatz lernt oder ein Lernvideo anschaut, während die anderen daneben dem Daily Business nachgehen. Dies schafft auch eine Legitimität, dass das Lernen zur Arbeit gehört, was unserem Team in die Karten spielt. Denn ich leite das Ausbildungsteam im Kundenservice. Zu meinen Aufgaben gehört es unter anderem, Schulungen zu erstellen und zu erteilen. Da der Pilotversuch für das selbstständige Lernen in die Corona-Zeit fiel, wurde die Wahl der Weiterbildung teilweise von aussen gesteuert. Wir mussten einen Teil der Schulungen virtuell gestalten: Um dafür fit zu sein, schaute ich mir Lernvideos auf LinkedIn Learning an und tauschte mich mit Kollegen aus, welche Tools geklappt haben. Wenn man Sachen selber ausprobiert, lernt man am schnellsten. Wir haben eingeführt, in den Teammeetings mit den anderen zu teilen, wenn wir das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben, von dem auch die anderen profitieren können. Das ist für das Lernen sehr anregend.»

Jenny Zehnder (35): Marketings- und Kommunikationsverantwortliche beim Digitalunternehmen Liip

«Das letzte Mal, als ich mein Weiterbildungsbudget gebraucht habe, war für einen Lehrgang zum Thema Beyond Leadership – dort lernte ich das Neuste im Bereich Kultur und Leadership. Ich interessiere mich für das Thema, weil ich schon lange in der Führung tätig bin. Wobei «Führen» das falsche Wort ist: Unser Unternehmen ist auf holokratische Grundsätze ausgelegt. Das heisst, es braucht ganz viel Leadership, nur eben anders als in klassisch organisierten Unternehmen. Davor habe ich von September bis Dezember eine Online-Weiterbildung in Digital Marketing absolviert, um meine Fachkompetenzen dort zu vertiefen. Ursprünglich absolvierte ich das KV auf einer Bank und studierte später an der Fachhochschule Betriebsökonomie. Danach hängte ich den Master in Kommunikation an. Ich bevorzuge Weiterbildungen, die fix stattfinden. Auch bei Online-Seminaren wie dem zu Digital Marketing funktionieren die festen Klassenzeiten. Ich schätze es persönlich sehr, wenn eine Weiterbildung fix in der Agenda steht.»

Veröffentlicht am: 10.06.2021

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Autorin

  • Susanne Wagner

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