Seitennavigation & Suche

«Die Verantwortung für das eigene Leben können wir nicht delegieren»

Die Zeit zwischen 40 und 50 ist eine Zeit des Umbruchs mit vielen Verpflichtungen auf familialer, beruflicher und gesellschaftlicher Ebene. Wichtig sei ein Innehalten, Offenheit und der Austausch mit anderen, sagt Psychologie-Professorin Pasqualina Perrig-Chiello.

Sie forschen über das mittlere Lebensalter. Was zeichnet es aus?

Pasqualina Perrig-Chiello: Aufgrund der längeren Lebenserwartung ist die Zeit zwischen 40 und 60 eine neue eigenständige Lebensphase, die neben viel Verantwortung auch neue Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Sie ist auch eine Zeit des Wandels auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. Leistungsfähigkeit und Aussehen verändern sich, und wir nehmen gewisse Dinge anders wahr. Typisch für diese Zeitspanne sind auch Bilanzierungen. Viele fragen sich, was sie in ihrem Leben erreicht haben und was noch möglich sein wird. Das Zeitfenster, das vor einem liegt, wird nun zunehmend kleiner. Damit drängen sich bei vielen neue Priorisierungen der Lebensziele auf.

Es ist also eine Zeit, in der die Weichen neu gestellt werden können?

Ja, viele Menschen verspüren den Wunsch, sich nochmals zu verändern und tun dies auch. Einiges hat sich in ihrem Leben ohnehin verändert, im Beruf und auch persönlich. Allerdings gehören zu dieser Lebensphase auch Herausforderungen. Im Beruf gehört man zu den Erfahrenen, die Jungen drängen nach. Privat befinden sich viele in der sogenannten Sandwich-Position. Die eigenen Eltern werden immer älter, und damit verbunden auch häufig Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Die Kinder wiederum bleiben länger zu Hause, als dies früher der Fall war. Nach vielen gemeinsamen Jahren kann auch die Partnerschaft auf eine neue Bewährungsprobe gestellt sein.

Früher waren die Lebensläufe klarer, mehr vorgegeben. Heute ist das Gegenteil der Fall. Man hört regelmässig von Menschen, die etwas Neues anpacken. Besteht sogar ein Druck, nochmals neue Wege zu beschreiten?

Ein gewisser innerer und äusserer Druck besteht sicher. Viele sind seit vielen Jahren im gleichen Job, und haben das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu befinden und möchten ausbrechen. Sie fragen sich: Wenn nicht jetzt, wann verändere ich meine Situation? Danach kann es zu spät sein. Auch ihre private Lebensart hinterfragen sie kritisch, wenn zum Beispiel die Partnerschaft keine Erfüllung mehr bringt und die Kinder sich ohnehin in der Ablösephase befinden. Will ich die nächsten dreissig Jahre so leben?

Erleben dies Frauen und Männer ähnlich?

Männer hatten es schon immer einfacher, sich zu verändern. Sie waren unabhängiger als die Frauen. Neu ist, dass nun vermehrt auch Frauen nach Veränderung streben, weil sie eigenständiger und vor allem finanziell unabhängiger sind. Sie müssen nicht mehr in unbefriedigenden Situationen ausharren.

«Viele sind seit vielen Jahren im gleichen Job, und haben das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu befinden und möchten ausbrechen.»
Pasqualina Perrig-Chiello

In einer Publikation schreiben Sie über die Entdeckung der mittleren Lebensjahre. Was verstehen Sie darunter?

Einerseits die Entdeckung der mittleren Lebensjahre durch die Menschen selber. Noch vor dreissig, vierzig Jahren hatten Männer und Frauen weniger Möglichkeiten, Neues anzupacken. Das hat sich geändert. Andererseits hat die Wissenschaft das Thema endlich entdeckt. Lange Zeit wurde es ausgespart. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigten sich mit Kindern, Jugendlichen, jungen Eltern, der Pubertät, dann auch zunehmend mit dem Alter. Aber die Generation dazwischen war nicht von Interesse.

Womit hat das zu tun?

Zum einen weil es diese Lebensphase als eigenständigen Lebensabschnitt noch nicht so lange gibt. Früher genügte die Unterscheidung Jung und Alt. Zum andern betrifft sie jene Generation, die familial und gesellschaftlich einfach funktionieren soll. Da thematisiert man offenbar nicht sehr gerne Bedürfnisse und Ansprüche.  Zwischenzeitlich ist aber in der Wissenschaft ein Wandel im Gange. Es gibt zunehmend mehr Studien, die sich mit den Herausforderungen und Chancen der mittleren Jahre beschäftigen.

Zum mittleren Lebensalter gehört die Zahl 50. Sie ist magisch. Was löst sie bei Menschen aus?

Es gibt viele runde Geburtstage, die etwas auslösen: Freude, Erwartung, aber auch Unsicherheit und Irritation. Sie symbolisieren Übergänge und sind Grenzen zu Lebensphasen, in denen neue Qualitäten hinzukommen. Mit 30 zum Beispiel gehört man definitiv zu den Erwachsenen. Mit 50 ist man nicht mehr jung und noch nicht alt. Frühe Darstellungen, in denen das Leben als auf- und absteigende Treppe symbolisiert wurde, setzten 50 mit dem Zenit gleich, danach beginnt der Abstieg. Diese alten Vorstellungen und Bilder sind implizit in unserer Gesellschaft immer noch vorhanden.

Geht es tatsächlich abwärts und fühlen sich die Menschen schlechter und unzufriedener, wenn sie altern?

Nein. Lebenszufriedenheitskurven zeigen das Gegenteil. Unzählige Studien machen deutlich, dass wir mit rund 45 bis 50 Jahren die Talsohle erreichen, was die Lebenszufriedenheit betrifft. Trotz häufiger altersbedingter Verluste geht es wieder aufwärts. Das subjektive Wohlbefinden nimmt zu und stabilisiert sich auf einem höheren Niveau.

«Unzählige Studien machen deutlich, dass wir mit rund 45 bis 50 Jahren die Talsohle erreichen, was die Lebenszufriedenheit betrifft.»
Pasqualina Perrig-Chiello

Worauf ist das zurückzuführen?

Zwischen 40 und 55 sind die meisten mit vielerlei biographischen Übergängen konfrontiert. Wechseljahre, Auszug der Kinder, Pflegebedürftigkeit der Eltern, berufliche und partnerschaftliche Neuorientierungen, und diese sind zumeist mit viel Stress verbunden. Unsere Befragungen haben gezeigt, dass die Leute aufgrund der vielen Aufgaben kaum Zeit finden, innezuhalten, ihr Leben zu reflektieren, Musse zu pflegen. Viele empfinden sich als getrieben und gefangen in einem System, das ihnen wenig Spielraum für sich selber lässt.  Es erstaunt daher nicht, dass Burnout-Raten, Depressionen und Scheidungen in der Zeit zwischen 45 und 55 am häufigsten sind.  

Und mit 60 hat man dann nicht mehr den Druck, noch möglichst viel zu erreichen. Die Menschen sind in diesem Alter relativ gelassen.

Genau. Entgegen häufiger Meinung steigt die Lebenszufriedenheit bei den meisten wieder an. Die Leute sind lebenserfahren, entwickeln zunehmend eigene Standards und lassen sich weniger unter Druck setzen.

Medien berichten regelmässig darüber, wie schwierig es für 50-Jährige sei, eine Stelle zu finden. Junge Bewerberinnen und Bewerber würden bevorzugt. Wie schätzen Sie dies ein?

Die Diskriminierung aufgrund des Alters auf dem Arbeitsmarkt ist erwiesenermassen ein Problem. Zwar reden alle davon, dass angesichts des Fachkräftemangels ältere Mitarbeiter sehr geschätzt sind wegen ihres Know-hows und ihrer Erfahrung. Gleichzeitig haben gerade über 50-Jährige bedeutsam mehr Mühe, nach einer Kündigung eine neue Anstellung zu finden als Jüngere. Fakt ist jedenfalls, dass Leute, die sich kontinuierlich weitergebildet haben, die besseren Karten in der Hand haben. Ein Umdenken ist jedenfalls zwingend, wenn man nicht noch mehr wertvolle Fachkräfte verlieren will.

Inwiefern?

Vor allem Frauen 50plus geraten in einen neuen Vereinbarkeitskonflikt Familie-Beruf. Viele reduzieren ihr Arbeitspensum oder steigen sogar aus dem Berufsleben aus, weil sie familiale Betreuungsaufgaben, vornehmlich die Pflege alter Eltern, übernehmen wollen oder müssen. Und hier tut sich was. In internationalen Konzernen etwa gibt es zunehmend Beratungsdienste wie Elderly Care, und sie kommen Arbeitnehmenden mit flexiblen Arbeitszeiten entgegen. Eine weitere Entwicklung geht dahin, dass Firmen bewusst auf altersdurchmischte Teams setzen. Dies aus dem Wissen heraus, dass Erfahrungswissen mit Innovationskraft für die Firma ein Mehrwert bedeutet.

«Viele empfinden sich als getrieben und gefangen in einem System, das ihnen wenig Spielraum für sich selber lässt.»
Pasqualina Perrig-Chiello

Nochmals zu einer möglichen Neuorientierung. Viele Menschen merken, nun muss sich etwas ändern. Was ist wichtig, damit dies gelingt?

Voraussetzung ist, dass man sich überhaupt eingesteht, dass Veränderungen anstehen, dass die alten Muster nicht mehr zielführend sind. Es geht um eine Achtsamkeit dem eigenen Befinden und den eigenen Bedürfnissen gegenüber und um eine Offenheit und Bereitschaft, die Veränderung auch vorzunehmen. Allerdings gelingt dies nicht allen gleich gut. Die Forschung zeigt, dass je nach Persönlichkeitsstruktur gewisse Menschen in einem Sicherheitszyklus verharren. Sie wollen oder dürfen sich nicht eingestehen, dass es im Leben Krisen geben kann, die auch sie treffen können. Sie bagatellisieren beispielsweise Schwächen, halten Burnout für Geschwätz, möchten alles unter Kontrolle halten. Doch genau diese Menschen kann es eher treffen, weil sie ihre Emotionen überkontrollieren oder gar nicht zulassen. Ich vergleiche ihre Situation mit einem Dampfkochtopf. Einmal ist der Druck zu gross und der Dampf muss entweichen. Damit sage ich auch, wie man auf Situationen reagieren sollte.

Das heisst?

Offen sein gegenüber Veränderungen. Natürlich ist das auch eine Frage der Persönlichkeit. Nicht alle können sich in gleicher Weise auf etwas Neues einstellen; das zieht sich durch die ganze Biografie. Ängstliche Menschen etwa fürchten sich vor Veränderungen, weil sie die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, nicht aushalten können.  Und dennoch stehen Veränderungen in unserem Leben an, denen wir uns nicht verschliessen können. Wenn wir diese nicht angehen, verdrängen, dann zwingen sie sich früher oder später von selber auf. Neben der Offenheit für Veränderung gehört, dass wir ein allfälliges Scheitern zulassen können. Scheitern gehört zum Leben. In der Entwicklungspsychologie sagen wir, das mittlere Lebensalter ist ein Realitätstraining, bei dem wir Illusionen wie ewige Liebe, ewige Treue und ewige Sicherheit aufgeben. Das ist kein Verlust, sondern ein Gewinn.

Gibt es ein Handwerk der Neuorientierung?

Wir sollten die Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen, uns neu zu definieren. Es geht um eine persönliche Entwicklung, die uns weiterbringt und unserem Leben wichtige Impulse und Möglichkeiten gibt. Vor allem sollten wir uns Zeit lassen, unser Leben zu reflektieren und zu bilanzieren. Carl Gustav Jung hat mal sehr zutreffend gesagt: Wir können den Nachmittag des Lebens nicht so verbringen wie den Vormittag.

«Wir sollten die Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen, uns neu zu definieren.»
Pasqualina Perrig-Chiello

Nun könnte man einwenden, dass für Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeit – zum Beispiel ängstliche Menschen – Veränderungen kaum möglich sind.

So einfach ist es nicht. Persönlichkeit ist kein Schicksal, wir können ein Leben lang lernen und uns optimieren. Eine der Kardinalkriterien, die zum Erfolg führen, ist nachweislich die Selbstverantwortlichkeit. Ich nehme mein Leben in die Hand und mache nicht etwa meinen Partner für meine Unzufriedenheit verantwortlich. Natürlich hat er auch Anteil an meiner Befindlichkeit, aber letztlich bin ich verantwortlich für mein Leben. Das Gleiche gilt im Beruf. Wenn ich einen mühsamen Chef habe, kann ich nicht ihn dafür verantwortlich machen, dass es bei der Arbeit schlecht läuft. Oder wenn ich eine schwierige Kindheit hatte: Das entschuldigt nicht alles. Ich muss damit umgehen können. Wichtig ist immer, was ich aus einer Situation mache. Was wir jedenfalls sagen können, ist, dass Frauen schneller auf Schwierigkeiten reagieren und Hilfe holen. Das hat wohl damit zu tun, dass sie sich bereitwilliger als Männer mit anderen über ihre Probleme austauschen. Daher kommt es bei ihnen weniger schnell zu plötzlichen biografischen Brüchen.

Dann gehört der Austausch über das eigene Leben auch zum Handwerk der Neuorientierung?

Unbedingt. Und man merkt dabei, dass man nicht alleine ist mit dem, was einen beschäftigt. Alle erzählen vom Bilanzieren, blicken auf das eigene Leben zurück, fragen sich, was sie erreicht haben, wo sie scheiterten und wo sich neue Möglichkeiten ergaben. Diese gemeinsame Erfahrung stärkt. Und nicht bei allen finden Veränderungen ja in radikaler Weise statt, sondern es sind häufig stete Anpassungsleistungen. Veränderungen sollten auf jeden Fall nicht als Desaster betrachtet werden, sondern eben als Chance. Es ist sinnvoll, eine Auslegeordnung vorzunehmen und sich auszutauschen.

Muss man mit 40 bereits an 50 denken?

Grundsätzlich sollte man das Hier und Jetzt bewusst leben, aber dabei zielgerichtet und vorausschauend sein. Ziele und Träume sind wichtig.  Ideal ist wohl: von den vergangenen Erfahrungen zehren, aus Fehlern lernen, aber sich nicht von der Vergangenheit treiben lassen. Nur so ist man frei für neue Erfahrungen.

Veröffentlicht am: 14.1.2020

«Es ist sinnvoll, eine Auslegeordnung vorzunehmen und sich auszutauschen.»
Pasqualina Perrig-Chiello

Zur Person

  • Pasqualina Perrig-Chiello

    Emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern. Sie hat an der Universität Fribourg studiert, war mehrere Jahre berufshalber im Ausland. Sie forscht und lehrt zu Themen der menschlichen Entwicklung über die Lebensspanne sowie zu Generationenbeziehungen. Sie ist Autorin mehrerer Bücher wie «In der Lebensmitte. Die Entdeckung der mittleren Jahre», «Generationenbericht Schweiz», «Die Babyboomer», «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist. Warum viele langjährige Partnerschaften zerbrechen und andere nicht».

Weitere Informationen

Autor

  • Rolf Murbach

Beliebte Inhalte