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Eine App statt dröge Jahresgespräche

Einmal im Jahr beim Chef antreten für die Mitarbeitendenbeurteilung – für viele ein unangenehmes Ritual. Eine neue App erleichtert die Personalführung.

Die traditionellen jährlichen Mitarbeitergespräche hielt Yasemin Tahris noch nie für ein besonders befriedigendes Ritual. «Für die Vorgesetzten beanspruchen sie viel Zeit», sagt die Arbeits- und Organisationspsychologin. Zudem würden die Gespräche häufig etwas einseitig ablaufen: Vorgesetzte geben Ziele vor, an denen sie ihre Angestellten messen. Im Rahmen ihres Studiums hat sie erkannt, dass Mitarbeitende motivierter sind, wenn sie ihre berufliche Entwicklung selber mitgestalten können. Das sei wissenschaftlich erwiesen, sagt die 33-Jährige. Zudem seien die jährlichen Standortbestimmungen zu träge in der heutigen Zeit mit den schnellen, ständigen Veränderungen, findet Tahris. Zusammen mit einem Team hat sie deshalb die App namens Flowit entwickelt. Sie soll eine effiziente Personalführung sowie eine kontinuierliche Feedbackkultur ermöglichen. «Wir bringen Unternehmen in den Flow» – so der Slogan.

Aus der Praxis entstanden

Die Idee entstand in der Firma ihres Ehemannes Bilâl Tahris, der bereits im Alter von 25 Jahren das Küchenbau-Unternehmen Artek von seinem Vater übernommen hatte. Die in Opfikon angesiedelte Firma geschäftete so erfolgreich, dass der Personalbestand stetig wuchs und heute gegen 100 Personen umfasst – darunter viele Handwerker, welche die Küchen montieren, aber auch Marketingfachpersonen, administrativ Tätige sowie Reinigungspersonal. Allmählich wuchsen die jährlichen Mitarbeitergespräche dem Geschäftsführer über den Kopf. Zudem hielt er sie in der angestammten Form für veraltet.

Firmen zeigen Interesse

So kam es, dass Yasemin und Bilâl Tharis eine erste Version der App für ihre eigene Firma entwickelten und seit 2017 erfolgreich einsetzen. Eine Vermarktung war ursprünglich nicht geplant. Doch bald begannen sich andere Unternehmen für das Tool zu interessieren. Das Paar gründete deshalb 2020 ein extra Startup, das heute 15 Personen beschäftigt. Unter anderem bringen professionelle IT-Entwickler, ein Spezialist für Künstliche Intelligenz sowie ein Datenschutz-Fachmann ihre Kenntnisse ein. Seit Anfang Jahr wird das überarbeitete System bei Kunden getestet. Darunter finden sich sehr unterschiedliche Unternehmen: Von einem Getränkeproduzenten über einen Hersteller von Elektrogeräten bis zu kleinen Handwerksbetrieben, Schulen, Apotheken und einem Architekturbüro. Auch eine grosse Versicherungsgesellschaft sowie eine Hochschule haben bereits angeklopft.

Der moduläre Aufbau erlaubt den Einsatz in verschiedenen Branchen. Das System basiert auf einem Modell mit 30 definierten Kompetenzen, unterteilt in jobbezogene, technologische und Soft Skills, die fast überall relevant sind. Dazu gehören zum Beispiel Arbeitsorganisation, Kommunikationsfähigkeit und Fachkompetenz.

Verborgene Skill entdecken

Das Flowit-Team begleitet die Implementierung bei seinen Kunden stets vor Ort. Dabei sprechen die Verantwortlichen nicht nur mit Führungspersonen, sondern ebenso mit verschiedenen Angestellten. Denn die App ist so konzipiert, dass sie von der hochqualifizierten Fachperson bis zum Handwerker und der ungelernten Putzfrau alle benutzen können. «Das haben wir in unserem eigenen Unternehmen ausprobiert», versichert Tahris. Sie sei mit einer Frau von der Reinigung zusammengesessen, die ihr Rückmeldung gab, welche Funktionen für sie hilfreich sind und mit welchen sie nichts anfangen kann. Dieses Vorgehen entspricht Tahris‘ Vorstellungen eines zeitgemässen Führungsstils. «Sämtliche Mitarbeitende müssen die Mission des Unternehmens verstehen und mittragen. Sie sollten sich fragen, wie sie mit ihren Skills zum Erfolg beitragen können.»

Mit der App würden immer wieder verborgene Kompetenzen entdeckt, sagt die doktorierte Psychologin. Als die Firma Artek zum Beispiel ein Social-Media-Team aufbauen wollte, waren Personen mit entsprechenden Erfahrungen gesucht. Über Flowit fand sich eine Mitarbeiterin, die versiert im Umgang mit Social-Media-Plattformen ist, sowie einen Mitarbeiter der mit Foto-Bearbeitungsprogrammen umgehen kann.

Flowit
Mit der App würden immer wieder verborgene Kompetenzen entdeckt

Digitalisierung sinnvoll nutzen

Doch besteht nicht die Gefahr, dass mit dem Delegieren der guten, alten Jahresgespräche an eine App das Zwischenmenschliche verloren geht? Natürlich brauche es trotzdem noch persönliche Gespräche, beteuert die Jungunternehmerin. Besser seien jedoch mehrere kürzere als einmal jährlich ein ausführliches.

«Als Psychologin halte ich die Digitalisierung für etwas Geniales», betont Yasemine Tahris. Wichtig sei jedoch, dass die Technologie nicht über die Menschen bestimme und ihnen nicht das Denken abnehme. Wenig sinnvoll findet sie zum Beispiel automatisierte Erinnerungshilfen, die uns etwa mitteilen, wann es Zeit ist, Mails zu beantworten oder den Computer herunterzufahren, oder Bots, die uns sagen, wie wir uns fühlen. Den damit würden wir verlernen, die eigenen Emotionen wahrzunehmen. «Die Digitalisierung vereinfacht und beschleunigt viele Prozesse», sagt die Powerfrau, die neben der Co-Leitung eines schnell aufstrebenden Startups auch noch Dozentin an einer Fachhochschule und Mutter zweier Kleinkinder ist. «Damit bleibt mehr Zeit für das Wesentliche.»

«Die Digitalisierung vereinfacht und beschleunigt viele Prozesse»
Yasemine Tahris

So funktioniert Flowit:

Ziele selber bestimmen:

In der App sind 30 Karten mit verschiedenen Kompetenzen hinterlegt. Mitarbeitende können sich jederzeit zwei davon in ihr Profil ziehen, an denen sie arbeiten wollen. Auf einer Skala schätzen sie ihre aktuelle Performance sowie im Verlauf der vier Wochen ein.

Nahe an den Angestellten dran:

Vorgesetzte können die Kompetenz-Karten ihrer Mitarbeitenden bestätigen oder ablehnen. Sie sehen ihr Engagement und ihre Qualitäten und Talente. Gleichzeitig können sie andere Ziele vorschlagen, die sie für wichtig halten.

Skill-Manager:

Die App erlaubt eine Übersicht über die vorhandenen Kompetenzen im Unternehmen. Dies hilft beim Zusammenstellen von Projektteams sowie der internen Nachfolgeplanung.

Feedback einholen:

Mitarbeitende können sich von ihren Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen jederzeit sehr einfach ein Feedback einholen. Dieses basiert auf den Kompetenzkarten, welche auf das Verhalten fokussieren, nicht auf die Persönlichkeit.

Vorgeschichte abbilden:

im Bereich History wird die Entwicklung der Nutzenden festgehalten. Es wird sichtbar, woran sie in der Vergangenheit gearbeitet haben und was sie bereits erreicht haben.

Stimmung erfassen:

Sämtliche Nutzenden werden regelmässig zu ihrer Motivation, der Stimmung im Team sowie der Sicht auf das Unternehmen befragt. Die Einschätzung gelangt in anonymisierter Form zu den Leitungspersonen. Wird irgendwo eine abrupt sinkende Zufriedenheit registriert, alarmiert die App zuständige Teamleitung über eine Push-Nachricht. So werden Unstimmigkeiten viel schneller erfasst als bei den meist jährlich durchgeführten Mitarbeitenden-Befragungen. Dies erlaubt sofortiges Reagieren.

Massnahmen vorschlagen:

Stellt der digitale Coach in einem Bereich Handlungsbedarf fest, kann er weitere Schritte wie etwa eine Weiterbildung oder eine Aussprache empfehlen.

Damit sämtliche Angehörige eines Unternehmens die App nutzen können, ist sie einfach und selbsterklärend gestaltet. Ein integriertes Übersetzungsprogramm gewährleistet, dass sie in verschiedenen Sprachen bedient werden kann. Für die Anwendung müssen Unternehmen eine Lizenz erwerben.

www.flowit.ch

08.12.2021

Weitere Informationen

Autor

  • Andrea Söldi

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