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«Eine Elternzeit verbessert die Chancengleichheit»

    Auch nach dem Beschluss für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub hinkt die Schweiz anderen Ländern weit hinterher. Obwohl sich eine bessere Lösung auch wirtschaftlich rechnen sollte.

    Es sind vor allem grössere, international aufgestellte Konzerne, die sich den Familien gegenüber grosszügig zeigen: An der Spitze steht zurzeit Volvo mit 24 Wochen Vaterschaftsurlaub, gefolgt von Novartis mit 18 Wochen und Google mit 12 Wochen. Auch Johnson und Johnson gibt den frisch gewordenen Vätern 8 Wochen frei, während Microsoft und Ikea immerhin 6 Wochen gewähren. Ab nächstem Jahr erhalten auch die Väter bei der Zurich Versicherung 16 Wochen Urlaub. Diverse weitere Unternehmen bieten bereits heute zwei oder drei Wochen über das gesetzliche Minimum von einem Tag hinaus. Dieses wird sich nun bald ändern. Im September haben National- und Ständerat beschlossen, einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub für sämtliche Betriebe einzuführen. Vorgeschrieben ist eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent bis höchstens 196 Franken im Tag. Der Beschluss wurde unter dem Druck einer Initiative gefasst, die einen doppelt so langen Urlaub verlangte. Das von der Arbeitnehmerorganisation Travailsuisse angeführte Komitee hat das Begehren nun aber aus Angst vor einer Niederlage zurückgezogen. Doch bereits stehen diverse andere Gruppierungen bereit, die deutlich weiter gehende Modelle auf kantonaler und nationaler Ebene verlangen. Gegen den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub haben SVP-Politiker das Referendum ergriffen. Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF), welche den Bundesrat berät, hat die Auszeiten nach der Geburt in den 36 OECD-Ländern verglichen und ist den Wirkungen der jeweiligen Modelle auf den Grund gegangen.

    kfmv: Zwei Wochen Vaterschaftsurlaub hat das Parlament diesen Herbst beschlossen. Eine beachtliche Verbesserung.

    Nadine Hoch: Es ist tatsächlich mehr, als wir zu hoffen wagten, und doch nur ein erster Schritt. Wenn man bedenkt, dass die Schweiz bezüglich bezahltem Urlaub für Mütter und Väter an drittletzter Stelle der OECD-Länder liegt, können wir uns nicht auf dem Erreichten ausruhen. Der Mittelwert in den OECD-Ländern liegt bei 54,4 Wochen bezahltem Urlaub für Mütter und Väter zusammen.

    Mehr als ein Jahr Ferien bei der Geburt eines Kindes. Ist das sinnvoll?

    Ferien würde ich es nicht nennen. Ein Jahr für beide Eltern zusammen wäre wünschenswert, jedoch nicht für die Mütter allein. In Deutschland zum Beispiel, wo Frauen über ein Jahr bezahlten Urlaub nehmen können, hangeln sich manche von Mutterschaft zu Mutterschaft. Der maximale Effekt liegt bei etwa 28 Wochen. Bei längerer Absenz wird der Wiedereinstieg schwieriger.

    Der Erwerbsersatz beträgt in der Schweiz zurzeit 80 Prozent, höchstens aber 196 Franken pro Tag. Reicht das?

    Es ist ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Familien und den finanziellen Möglichkeiten der Gesellschaft. Berufstätige mit mittleren und höheren Einkommen erfahren so eine deutliche Lohneinbusse. Und auch für Eltern mit niedrigem Einkommen sind die 20 Prozent Lohnreduktion schmerzhaft. Wenn der Erwerbsersatz zu tief angesetzt wird, besteht die Gefahr, dass Eltern nur ein Minimum beziehen, weil das Familieneinkommen sonst gefährdet wäre.

    Was für ein Modell schlagen Sie aufgrund Ihrer Analyse für die Schweiz vor?

    Wir halten 38 Wochen Elternzeit für eine vernünftige Lösung: 14 Wochen für die Mutter, 8 Wochen für den Vater und 16 Wochen zum frei Aufteilen. Mit dem Begriff Elternzeit appellieren wir an die Gleichstellung der Geschlechter. Klar, dass die Mutter etwas mehr Zeit braucht als der Vater, damit sie sich von der Schwangerschaft und der Geburt erholen sowie das Kind stillen kann. Doch die Väter sollen sich in der anstrengenden, aber auch enorm wichtigen Zeit der frühen Kindheit gleichermassen engagieren können. So entwickeln sie von Anfang an eine starke Bindung zu ihrem Kind und werden auch später mehr Verantwortung übernehmen.

    Die Wirtschaftsverbände befürchten eine grosse Belastung durch die langen Abwesenheiten – zusätzlich zu Ferien, Militär und Krankheitstagen. Besonders kleinere, männerlastige Betriebe würden darunter leiden.

    Sie sollen sich ein Beispiel nehmen an den traditionellen Frauenbranchen: Gesundheitswesen, Schule, Kinderbetreuung, Detailhandel. Diese mussten schon längst Lösungen für die Mutterschaftsabsenzen erarbeiten.

    Bereits jetzt müssen für AHV und IV neue Finanzierungsmodelle gefunden werden. Wie wollen Sie nun auch noch eine längere Elternzeit bezahlen?

    Zum Beispiel über die Erwerbsersatzordnung, aus der bereits Militärdienstleistende und Mütter entschädigt werden. Die Beiträge müssten sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer um etwa 0,2 Lohnprozente erhöht werden. Denn nach unseren Berechnungen würde das 38-Wochen-Modell jährlich zwischen 1,2 und 1,6 Milliarden Franken kosten – je nachdem, wie viele Väter wie lange Elternzeit beziehen. Auf der anderen Seite würde es bestimmt viele Einsparungen geben. Von diesen spricht leider niemand.

    Woran denken Sie?

    Wie Studien zeigen, würden einerseits die Gesundheitskosten sinken: Mütter leiden weniger häufig an Depressionen und Erschöpfungszuständen, wenn sie Elternzeit beziehen können. Und die Kinder sind gesünder, weil sie länger gestillt werden und weniger Stress erfahren. Weiter steigt langfristig die Erwerbstätigkeit der Mütter, womit mehr Geld in die Sozialwerke fliesst. Die grossen Lücken, die Frauen heute in der Altersvorsorge haben, würden kleiner. Und die Betreuungskosten würden sowohl für Eltern sinken als auch für den Staat, wegen geringerer Steuerabzüge und tieferen Subventionen für Betreuungsinstitutionen. Ich bin überzeugt, dass sich das volkswirtschaftlich gesehen mehr als auszahlt.

    Soll Elternschaft zu einer Gesellschaftsaufgabe werden?

    Unbedingt. In der Schweiz betrachtet man Elternschaft traditionell eher als private Angelegenheit, und zwar vor allem der Frauen. Das ist rückständig. Bei einer Einstellung haftet Frauen im gebärfähigen Alter heute einseitig das Risiko einer Schwangerschaft mit anschliessender Absenz an. Eine Elternzeit für Mütter und Väter würde die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt verbessern.

    Zur Person
    Nadine Hoch ist Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF).

    Autorin

    • Andrea Söldi

    Kaufmännischer Verband unterstützt Elternzeit

    Der Kaufmännische Verband setzt sich gemeinsam mit den anderen plattform-Verbänden seit Jahren für eine Elternzeit ein. Gleichstellung, Flexibilität und die Ausschöpfung des inländischen Fachkräftepotenzials sind für die plattform die wichtigsten Anforderungen an ein Elternzeitmodell.  Dafür braucht es die Möglichkeit einer hälftigen Aufteilung zwischen den Eltern, eines tageweisen Bezugs sowie eines Teilzeitmodells.  Diese Flexibilität kommt sowohl der Familie als auch dem Unternehmen zugute und ist auch für KMU geeignet. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen zudem, dass ein Pflichtteil für Väter eine Voraussetzung für den Erwerbseffekt auf Mütter ist. Die plattform-Verbände setzen auf eine breit abgestützte, finanzierbare Lösung, weil diese auf politischer Ebene die grössten Chancen hat. Maximalforderungen halten sie für kontraproduktiv. «Zu einer modernen Arbeitswelt gehört auch eine moderne Gesellschaft. Gleiche Chancen, Rechte und Pflichten für Frauen und Männer sind dabei eine Grundvoraussetzung», sagt Ursula Häfliger, Geschäftsführerin der plattform. «Man kann keine Arbeitswelt 4.0 mit einer Gesellschaft 3.0 haben».

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