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Porträt einer schlagkräftigen Assistentin

    Nicole Künzi war 2013 Europameisterin im Leichtgewichtsboxen. Auch heute geht die Direktionsassistentin noch regelmässig in den Boxkeller.

    In unmittelbarer Nähe zum SBahnhof Wankdorf, neben dem Hauptsitz der SBB, steht entlang der Bahnlinie der neue Hauptsitz der Schweizerischen Post. Auf acht Geschossen sind hier rund 2000 Arbeitsplätze entstanden. Seit bald einem Jahr ziehen die Mitarbeitenden staffelweise von sechs Standorten hierher, und noch immer ist das Bürohaus nicht vollständig belegt. Wir betreten den riesigen Eingangsbereich. Freie Sicht auf die oberen galerieartig angelegten Stockwerke. Und mittendrin die Installation des Basler Künstlers Tobias Madison mit schwebenden blauen und grauen Seilen. Hier warten wir auf Nicole Künzi. Oder sollen wir Frau Boss sagen? Nein, Nicole Boss – ihr Herkunftsname – wird nur im Zusammenhang mit dem Boxen genannt. Nicole Künzi also führt uns in eine «Regenerationszone» im ersten Stock. Sie hat sich gut eingelebt am neuen Standort. Seit gut einem halben Jahr arbeitet sie hier. Bei der Post aber ist sie schon viel länger. 2003 war sie auf Stellensuche. Ein Kollege, der bei der Post arbeitete, empfahl ihr eine Spontanbewerbung. Und es klappte. Sie begann als Assistentin im Konzernbereich Finanzen. Danach wechselte sie als Sachbearbeiterin zum Projekt REMA. Dabei ging es um die Reorganisation der Briefverarbeitung. Ziel war es, die Logistik an nur noch drei Standorten (Zürich Mülligen, Härkingen und Eclépens) zu konzentrieren. Dort wurden zwischen 2005 und 2008 neue Sortierzentren gebaut. «Es war für mich spannend, an diesem für die Post sehr wichtigen Projekt von Anfang an bis zum Schluss mitarbeiten zu dürfen», sagt Nicole Künzi rückblickend. Danach machte sie sich Gedanken, wie es beruflich weitergehen könnte. Sie bewarb sich intern als Direktionsassistentin bei François Gauthey, dem Leiter Informationsmanagement und Technologie sowie Mitglied der Geschäftsleitung. Und in dieser Funktion ist sie auch heute noch tätig.

    Erstmals im Boxkeller

    Nicole Künzi ist aufgewachsen in Wohlen bei Bern. Nach der Schule begann sie eine Lehre als Coiffeuse, musste diese aber nach kurzer Zeit wegen einer Allergie wieder aufgeben. Es folgte ein Jahr Handelsschule und dann die kaufmännische Lehre in einem Baugeschäft. Entscheidend sei in jener Zeit aber gewesen, dass sie eines Tages in einen Boxkeller kam. Ein Kollege und angehender Boxtrainer hatte sie darauf aufmerksam gemacht mit der Bemerkung, dass Boxsport etwas sei, das sie faszinieren könnte. Sie hat als Kind schon immer Sport getrieben, aber Boxen war völlig neu. «Ich war skeptisch, wollte es aber ausprobieren», sagt die 37-Jährige. Und: «Es hat mir sofort total den Ärmel reingenommen.» Sie blieb dran in all den darauf folgenden Jahren, trainierte kontinuierlich und konzentriert, wurde immer besser und kämpfte immer erfolgreicher. 2013 war ein ganz besonders intensives Jahr, und zwar im Sport wie auch im Beruf. Sie trainierte auf den Europameistertitel als Leichtgewichtsboxerin. Und sie bereitete sich erfolgreich auf die Fachausweis-Prüfung als Direktionsassistentin vor. In den beiden vorangehenden Jahren besuchte sie jeweils an zwei Abenden und im letzten Semester zusätzlich noch am Samstagmorgen eine entsprechende Weiterbildung an der WKS KV Bildung in Bern. Und sie war zu 100 Prozent als Direktionsassistentin berufstätig. Wie hat sie das alles nur geschafft? «Es war möglich dank der grosszügigen Unterstützung meines persönlichen wie beruflichen Umfelds », sagt Nicole Künzi.

    «Ich profitierte von der grosszügigen Unterstützung meines persönlichen wie beruflichen Umfelds.»
    Nicole Künzi

    Intensive Tage

    Morgens kurz nach sechs war sie im Büro. Am Mittag ging sie «i Boxchäuer». Die Technik-Trainings absolvierte sie mit ihrem persönlichen Boxtrainer und das Kraft- und Konditionstraining mit ihrem Mann, Stefan Künzi. Danach ging sie wieder ins Büro und abends nochmals ins Training oder in den Weiterbildungskurs. An den Wochenenden fanden häufig Trainings in Deutschland statt. Dieser restriktive Probenplan kam auch in den Jahren zuvor während jeweils acht Wochen vor einem Wettkampf zur Anwendung. Hätte sie denn während dieser intensiven Phasen nicht die Berufstätigkeit reduzieren können? Nein, habe sie sich damals gesagt, es laufe doch alles eigentlich recht gut. Es war ihr in jeder Phase ihrer Sportkarriere wichtig, neben dem Boxen auch berufstätig zu sein. Beruf und Boxen ergänzten sich ihrer Meinung nach sehr gut. Es fiel ihr immer leicht, den einen vom anderen Bereich abzugrenzen. So wurde der Sport immer auch durch die Berufstätigkeit wieder relativiert und umgekehrt. Anderseits habe sie bei der Arbeit profitiert von Eigenschaften, die sie sich dank dem Sport angeeignet habe: Ehrgeiz, Disziplin, Ausdauer, Durchhaltewillen. «Dass man dranbleibt, auch wenn etwas nicht sogleich funktioniert, das gilt im Sport wie im Beruf.» Während der Vorbereitungszeit auf einen Wettkampf sei sie auch im Büro sehr darauf bedacht gewesen, dass alles effizient ablaufe, in anderen Phasen hingegen habe sie die Erledigung einer Aufgabe auch mal auf den nächsten Tag verschieben können.

    «Dass man dranbleibt, das gilt im Sport wie im Beruf.»
    Nicole Künzi

    Grosses Ziel erreicht

    Am 21. Dezember 2013 fand im Sternensaal von Bern-Bümpliz der EM-Titelkampf im Leichtgewicht der European Boxing Union (EBU) zwischen Nicole Boss aus Wohlen und der Bulgarin Kremena Petkova statt. Die Schweizerin konnte den Kampf für sich entscheiden und wurde Europameisterin. «Es war fantastisch, diesen Gürtel zu gewinnen. Damit hatte ich ein grosses Ziel erreicht », sagt sie heute. Insgesamt gewann Nicole Boss in ihrer Karriere drei EM-Titelkämpfe der EBU. «Danach musste ich mich fragen, wie es jetzt noch weitergehen könnte.» Und schon kurz nach dem EM-Erfolg sei klar geworden, dass sie auch noch um den Weltmeisterschaftstitel kämpfen werde. Und wenn schon, dann gegen die Nummer eins in ihrer Gewichtsklasse (bis 61,235 Kilogramm). Im Boxsport gibt es verschiedene Verbände und deshalb sei es eben auch möglich, relativ einfach zu einem WM-Titel zu kommen. Diese aber hätten bei weitem nicht den Stellenwert des WM-Titels, den sie anstrebte.

    «Die Weiterbildung zur Direktionsassistentin hat mir sehr viel gebracht.»
    Nicole Künzi

    Eine Enttäuschung

    Im Frühling 2015 bereitete sie sich intensiv auf den Kampf gegen die amtierende Weltmeisterin Delfine Persoon vor. «Klar, ich wollte gewinnen, aber ich hatte grossen Respekt vor ihr. Delfine Persoon war für mich das Mass aller Dinge.» Es sei völlig klar gewesen, dass diese nur schwer zu schlagen sei. Sie habe gewusst: «Ich muss einen absolut perfekten Tag erwischen und darauf hoffen, dass dies bei meiner Gegnerin nicht ebenso zutrifft.» Sie habe während Wochen ihren Trainingsplan minutiös eingehalten, sei nie krank oder verletzt gewesen. Die perfekte Vorbereitung. Und dann klappte es doch nicht. Diesen Kampf hat Nicole Boss verloren.  «Nun, es ist keine Welt zusammengebrochen », sagt sie rückblickend. «Ich habe mein Bestes gegeben und musste akzeptieren, dass meine Gegnerin besser war. Das ist so im Sport.» Im Oktober 2015 entschied sie, vom aktiven Boxsport zurückzutreten. Und nur wenige Tage später kam für sie ganz überraschend noch ein Titel dazu, um den sie nicht einmal kämpfen musste: Sie wurde vom Berner Regierungsrat zur Berner Sportlerin 2014/2015 gewählt. «Es hat alles wunderbar zusammengepasst. » Heute geht sie noch immer zweibis dreimal pro Woche in den Boxkeller, einfach so, aus Spass, und ohne jemals wieder einen Titel anzustreben.

    Ideales Team

    Und wie geht es beruflich weiter? «Ich bin glücklich in meiner Funktion als Direktionsassistentin.» Einen besseren Chef als François Gauthey kann sie sich nicht vorstellen. Dass man sich gut mag, ähnlich tickt und sich respektiert sind ihrer Meinung nach wichtige Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen Chef und Assistentin. «Und klar, als Assistentin hält man dem Chef den Rücken frei und organisiert alles so, dass es ihm entspricht.» Wenn es zum Beispiel mal einen freien Tag in seiner Agenda gibt, dann bucht sie dort extra nichts hinein, damit er allenfalls spontan frei nehmen kann. Sie selber habe während der aktiven Jahre im Boxen auch sehr profitiert von der Grosszügigkeit und Flexibilität ihres Chefs. «Die Weiterbildung zur Direktionsassistentin hat mir sehr viel gebracht», sagt Nicole Künzi. An ihrer Tätigkeit schätzt sie, dass diese sehr vielseitig ist und kein Tag wie der andere abläuft. Sie ist Mitglied der DA Community, einem Netzwerk des Kaufmännischen Verbandes für Direktionsassistentinnen und -assistenten, und nimmt regelmässig an deren Events teil. «Beruflich könnte es von mir aus noch eine ganze Weile so weitergehen wie jetzt.» Aber klar, sagt Nicole Künzi, man wisse nie, was die Zukunft bringt. Man müsse immer offen sein für Veränderungen. Sicher ist, dass Direktionsassistentin der richtige Beruf sei für sie. Und das Boxen werde ganz bestimmt auch in Zukunft ein wichtiger Teil in ihrem Leben sein.

    «Die Weiterbildung zur Direktionsassistentin hat mir sehr viel gebracht.»
    Nicole Künzi
    • Therese Jäggi

    Bild

    Béatrice Devènes