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«Wir müssen Teilzeitkarrieren ermöglichen – auch für Männer.»

Sophie Achermann, Geschäftsführerin von alliance f, spricht im Interview über das ungenutzte Potenzial von weiblichen Fachkräften, warum Teilzeitkarrieren – auch für Männer – möglich sein müssen, und warum die Individualbesteuerung viel mehr als nur Steuergerechtigkeit bringt.

Seit 2018 bist du Geschäftsführerin von alliance f. Wofür setzt sich deine Organisation ein?

Sophie Achermann: Wir sind ein politischer Dachverband, der sich Gleichstellungsthemen auf die Fahne geschrieben hat. Unser Fokus liegt auf Frauen in der Arbeitswelt, in der Wirtschaft und in der Politik. Unsere Stärke ist unsere Vielfalt. Zu unseren Mitgliedern gehören etwa NGOs, denen die Kapazitäten fehlen, um ihre Interessen politisch zu vertreten, oder grosse Berufsverbände wie die Pflegefachfrauen, Hebammen oder Juristinnen. Aber auch alle Frauenzentralen, die Finanzberatungen für Frauen anbieten, oder Helvetia Rockt, die Frauen in der Musik fördern. Zu den Mitgliedern zählen zum Beispiel die Lesbenorganisation Schweiz LOS sowie sportif, ein Netzwerk für Frauen im Sport. Sie alle haben ihre spezifische Expertise. Für die übergreifenden Themen kommen wir ins Spiel.

Ein Herzensanliegen von alliance f ist die Individualbesteuerung. Was bringt die Initiative neben mehr Steuergerechtigkeit?

Die Schweiz ist fast das einzige Land in der OSZE, das verheiratete Paare zusammen besteuert. Das erhöht die Steuerprogression. In 90 Prozent der Fälle ist das zweite Einkommen dasjenige der Frau, die überdurchschnittlich oft Teilzeit arbeitet. Müssen Kinder in der Folge fremdbetreut werden, kann dies dazu führen, dass am Schluss weniger Lohn auf dem Konto liegt, als wenn die Frau nicht Teilzeit – oder überhaupt nicht – arbeiten würde. Fast 15 Prozent der erwerbstätigen Frauen sagen, sie seien unfreiwillig unterbeschäftigt – sie würden also gerne mehr arbeiten, können es sich aber nicht leisten.

Die Individualbesteuerung hat zum Ziel, dass auch verheiratete Paare auf der Grundlage ihres jeweiligen Einkommens und nicht wie heute gemeinsam besteuert werden. Das aktuelle Gesetz ist ein Relikt aus der Nachkriegszeit, das dringend modernisiert werden muss.

Wie hilft die Individualbesteuerung dabei, den Fachkräftemangel zu bekämpfen?

Die Ecoplan-Studie «Auswirkungen einer Individualbesteuerung: Vergleich verschiedener Steuersysteme der Schweiz» schlägt eine modifizierte Individualbesteuerung vor. Familien mit Kindern würden von zusätzlichen Abzügen profitieren. Die Studie schätzt, dass die Individualbesteuerung zu 60'000 zusätzlichen Vollzeitstellen (FTE) führen würde. Fast 80 Prozent davon wären Frauen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren – ein Drittel von ihnen mit Hochschulabschluss. Das ist weibliches Fachkräftepotenzial, das wir dringend brauchen.

Wir müssen also sicherstellen, dass Frauen – und Männer –, die mehr arbeiten wollen, dies auch können. Und dass es sich finanziell lohnt. Wenn Frauen in höheren Pensen arbeiten, sind sie im Alter besser abgesichert. Das entlastet unter anderem die Gemeinde und die Sozialwerke, wenn sie nicht mehr auf Ergänzungsleistungen oder andere Unterstützung angewiesen sind. Und es schafft finanzielle Unabhängigkeit für die Frauen.

«Das aktuelle Steuersystem mit der Heiratsstrafe muss dringend modernisiert werden.»
Sophie Achermann über das aktuelle Steuersystem:

Die Unterschriften für die Initiative sind gesammelt (vgl. Infobox). Wie geht es nun weiter?

Einerseits gibt es die Initiative, andererseits gibt es einen Auftrag des Parlaments an den Bundesrat, eine Vorlage auszuarbeiten. Die Wirtschaftskommissionen des Ständerats und des Nationalrats haben dem Bundesrat Eckwerte für die Vorlage mitgegeben. Beide gehen in Richtung der modifizierten Individualbesteuerung. Im Mai 2022 schlug der Bundesrat dann die Individualbesteuerung vor – daneben aber auch ein Hausfrauenmodell, was niemand ganz verstanden hat. Die Vorlagen des Bundesrats kommen im Herbst 2022 in die Vernehmlassung. Dann entscheidet sich, ob das, was vom Parlament ausgearbeitet wurde, ausreicht – wenn ja, gibt es keine Abstimmung. Oder ob das Thema an die Urne kommt, weil unsere Forderungen nicht erfüllt wurden.

Welche weiteren Massnahmen sind nötig, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen?

Die familienexterne Kinderbetreuung muss günstiger werden. Eine BAK-Basel-Studie hat untersucht, wie sich Investitionen in Betreuungsangebote für Kleinkinder bis vier Jahre auf die Wirtschaft auswirken würden. Mit einmaligen staatlichen Investitionen von 2 Milliarden Franken für Kleinkinder könnte das Bruttoinlandprodukt (BIP) langfristig um rund ein halbes Prozent oder 3,3 Milliarden Franken jährlich gesteigert werden, so die Studie.

In Bezug auf die Finanzierung besteht Einigkeit, dass der Bund mitfinanziert. Was nicht passieren darf, ist, dass der Bund mehr finanziert und die Kantone in der Folge weniger zahlen – und sich für die Familien nichts ändert. Hier braucht es ein subsidiäres System, das greift. Es gibt Kantone, die ein Gutscheinsystem für die Kita-Betreuung eingeführt haben. Doch selbst dort sind die Kosten, vor allem für gut ausgebildete Frauen, noch dermassen hoch, dass sie weiterhin nur in tiefen Pensen arbeiten.

Zudem müssen wir Teilzeitkarrieren ermöglichen – auch für Männer. Sie werden stark benachteiligt, wenn sie Teilzeit arbeiten. Ein Mann, der 80 oder 90 Prozent arbeiten möchte, gilt rasch als faul. Männer, die bei der Jobsuche angeben, dass sie Teilzeit arbeiten wollen, werden seltener zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Und: Teilzeitarbeit hemmt die Karriere. Auch vielen Frauen bleibt mit Teilzeitarbeit der Karriereaufstieg verwehrt. Hier muss sich die Wirtschaft bewegen. Teilzeit heisst nicht, dass die Personen keine Lust haben zu arbeiten.

Je mehr auch Männern Teilzeitarbeit ermöglicht wird, desto mehr können Frauen ihre Pensen wieder aufstocken. Das hilft ebenfalls gegen den Fachkräftemangel. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Mann hat bisher 100 Prozent gearbeitet, die Frau hat sich Vollzeit um die Kinder gekümmert. Wenn er jetzt auf 80 Prozent reduziert und sie 60 Prozent arbeitet, dann sind das immer 140 Stellenprozente statt wie bisher 100. Ausserdem müssen Arbeitgeber anfangen, Personen einzustellen, die nicht über die perfekten Voraussetzungen und Skills für eine Stelle verfügen, und sie dann «on the job» ausbilden. Hier darf die Wirtschaft mutiger und kreativer werden.

«Je mehr auch Männern Teilzeitarbeit ermöglicht wird, desto mehr können Frauen ihre Pensen wieder aufstocken.»
Sophie Achermann über Teilzeitarbeit:

Wir haben jetzt vor allem über die Rahmenbedingungen gesprochen. Welchen Beitrag müssen die Frauen selbst leisten?

Es ist erschreckend, wie wenig sich Frauen (und auch Männer) über die Folgen ihrer Entscheidungen in den ersten Jahren des Familienlebens bewusst sind.

Bekommt man Kinder, sprechen wir von einem Zeitraum von wenigen Jahren, die gut geplant sein müssen. Diese Zeit, in der die Kinder klein sind, ist wahnsinnig anstrengend, aber man darf sich nicht durch falsche Entscheidungen den Karriereweg verbauen oder zulassen, dass grosse Lücken in der Vorsorge entstehen. Es braucht noch viel Aufklärungsarbeit, damit Entscheide in Bezug auf Arbeitsteilung und Teilzeitarbeit aktiv getroffen werden. Frauen und Männer müssen sich der Auswirkungen von Teilzeitarbeit in dieser Lebensphase auf Karriere und Vorsorge bewusst sein – und sich dann aktiv für ein Modell entscheiden.

Welche Auswirkungen hat Teilzeitarbeit auf die Altersvorsorge?

In der zweiten Säule, der beruflichen Vorsorge, ist Teilzeitarbeit extrem benachteiligt. Und zwar wegen des Koordinationsabzugs, der in der Pensionskasse vom Grundlohn abgezogen wird, weil er bereits in der AHV versichert ist. Im Ständerat wird diskutiert, den Koordinationsabzug prozentual auszugestalten – das heisst, wenn ich 60 Prozent arbeite, beträgt der Koordinationsabzug auch 60 Prozent. Das würde gerade für die Frauenrenten eine riesige Verbesserung bedeuten. Ausserdem müssen bei Personen mit mehreren Jobs, wovon wiederum Frauen überproportional betroffen sind, die Stellenprozente zusammen versichert werden – also nicht dreimal 20 Prozent, sondern einmal 60 Prozent.

Wie können wir das Wissen rund um Vorsorgethemen verbessern?

Insgesamt braucht es bessere und verständlichere Informationsangebote zu Vorsorge- und Finanzthemen. Man sollte in der Schule, Lehre, am Gymnasium, vonseiten Politik – aber auch zuhause am Familientisch – darüber reden. Frauen müssen sich für ihre Vorsorge interessieren und sich damit befassen, um bewusste Entscheidungen treffen zu können. So kann man allfällige Lücken in der beruflichen Vorsorge, die am Anfang des Karrierelebens entstehen, möglicherweise ausgleichen. Das ist je nach Pensionskasse möglich. Hier haben wir alle einen Bildungsauftrag und müssen diesen wahrnehmen.

Was wünschst du dir für die Zukunft der Gleichstellung in der Schweiz?

Ich wünsche mir Chancengleichheit. Es geht ja nicht nur um Gleichstellung der Geschlechter. Nicht alle müssen gleich sein, nicht alle müssen dasselbe können, aber alle Menschen müssen die gleichen Möglichkeiten im Berufsleben haben.

«Nicht alle Menschen sind gleich, aber alle müssen die gleichen Möglichkeiten im Berufsleben haben.»
Sophie Ackermann über Chancengleichheit:

Infobox

  1. alliance f ist die politische Stimme der Frauenpolitik. Die Organisation bringt sich dort ein, wo sie Mehrheiten schaffen und holen kann. alliance f ist überparteilich aufgestellt, und von den Grünen bis zur FDP sind alle Parteien im Vorstand vertreten – mit Ausnahme der SVP, da sie keine Frauenpartei hat. alliance f vertritt die Interessen von über 100 Mitgliedsorganisationen und 900 Einzelmitglieder. Auch Männer sind bei alliance f als Mitglieder herzlich willkommen.

    alliancef.ch

  2. Gemeinsam mit zahlreichen Parteien, Wirtschafts- und Frauenverbänden haben der Kaufmännische Verband Schweiz und seine politische Allianz die plattform am 8. September 2022 über 112'600 validierte Unterschriften für die Individualbesteuerung in Bern eingereicht. Die Initiative kommt nun in den parlamentarischen Prozess und anschliessend vor eine Volksabstimmung. Für den Kaufmännischen Verband Schweiz und die plattform steht fest: Die Individualbesteuerung ist richtig und notwendig. Sie verbessert die Gleichstellung der Frauen im Erwerbsleben, setzt die richtigen Erwerbsanreize für Zweitverdiener:innen und fördert das weibliche Arbeitskräftepotential in der Schweiz.

    individualbesteuerung.ch

Autorin

  • Sibylle Zumstein

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