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Ein offenes Ohr für Mitarbeitende

Depressionen, private Probleme oder Konflikte am Arbeitsplatz – viele Unternehmen bieten ihren Mitarbeitenden eine externe professionelle Beratung für schwierige Lebenslagen.

Im letzten Herbst wurden die depressiven Verstimmungen und Angstzustände wieder stärker. «Gut möglich, dass Corona dabei eine Rolle spielte», sagt Lukas Liner*. Die Isolation im Homeoffice habe ihm zugesetzt, glaubt der Betriebsökonom, der bei einem grossen Finanzinstitut angestellt ist. Die Arbeit an sich sei nicht das Problem gewesen, beteuert er. Im Gegenteil: «Sie gab mir Halt und Struktur.» Bereits früher einmal hatte Liner wegen seiner psychischen Probleme eine therapeutische Behandlung in Anspruch genommen. Nun erfuhr er über eine Arbeitskollegin, der er sich anvertraut hatte, von der betrieblichen Sozialberatung, welche die unabhängige Firma Movis durchführt. Alle Mitarbeitende des Unternehmens haben bei Problemen Anspruch auf mehrere Termine bei einer externen Fachperson.

Der 49-Jährige wandte sich per Mail an die im Intranet angegebene Adresse und erhielt wenige Tage später einen Termin bei Sozialberaterin Sharon Weekes. Sie habe ihm Strategien aufgezeigt, die er im Alltag bei einem Stimmungstief anwenden konnte. Zum Beispiel lernte er, sich vermehrt an positive Erfahrungen und Gefühle zu erinnern, statt sich mit den negativen zu beschäftigen. Zudem half die Beraterin ihm, einen geeigneten Therapeuten zu finden. «Die rasche und unkomplizierte Unterstützung war sehr hilfreich», blickt Liner zurück. Unterdessen geht es ihm schon wieder besser.

Um Fabrikarbeiter gekümmert

Immer mehr Organisationen schliessen mit einem externen Beratungsunternehmen einen Vertrag ab, um ihre Mitarbeitenden in schwierigen Situationen zu unterstützen. Das Konzept hat eine bald 100-jährige Geschichte: In den schweren Krisenjahren rund um den ersten Weltkrieg war die Not der Arbeiterfamilien gross. Im Zuge des Generalstreiks von 1918 wurden politische Forderungen lauter.  Die Winterthurer Arbeitertochter Else Züblin-Spiller machte aus dem von ihr gegründeten Schweizer Verband Soldatenwohl den Schweizerischen Volkdienst – heute ist daraus der Personalrestaurantbetreiber SV Group geworden – und startete 1922 die erste Beratungs- und Fabrikfürsorgestelle in der Maschinenfabrik Gebrüder Bühler in Uzwil.

Mittlerweile kümmern sich die professionellen Beratungen in zahlreichen Unternehmen um eine ganze Reihe von gesundheitlichen und sozialen Problemen. «Mitarbeitende wenden sich in privaten Krisen und bei Trauerfällen an uns, aber auch bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz», erzählt Sharon Weekes. Die 43-Jährige ist gelernte Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin mit Ausbildung in Mediation und systemischer Beratung. Für Movis arbeiten rund 60 Fachpersonen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen, darunter auch einige mit arbeits- und sozialrechtlichen Kenntnissen.

Erzählen schafft Distanz

«Häufig hilft es meinen Klientinnen und Klienten bereits, einfach einer unbeteiligten Person von ihren Sorgen erzählen zu können», macht Weekes die Erfahrung. «Zusammen nehmen wir zuerst einmal eine Auslegeordnung der Situation vor.» Vielen gelingt es dabei, etwas Distanz zu gewinnen und vielleicht sogar einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Zeichnet sich ab, dass die vorgesehene Anzahl Termine nicht ausreicht oder dass die Person weitere spezifische Unterstützung benötigt, helfen die Movis-Mitarbeitenden beim Aufgleisen eines passenden Angebots. Sie vermitteln etwa den Erstkontakt für eine längere Therapie oder verweisen an Fachstellen wie etwa die Krebs- oder die Rheumaliga.

Bei Konflikten am Arbeitsplatz bietet Weekes manchmal auch ein vermittelndes Gespräch an. «Dabei nehme ich aber auf keinen Fall einfach die Seite meiner Klienten ein», betont die Bernerin. Vielmehr schaue sie mit ihnen vorher an, wie sie ihr Anliegen ruhig und sachlich formulieren können, damit eine Aussprache nicht eskaliert.

Immer mehr Organisationen schliessen mit einem externen Beratungsunternehmen einen Vertrag ab, um ihre Mitarbeitenden in schwierigen Situationen zu unterstützen.

Behutsam zurück an den Arbeitsplatz

Ein weiteres Angebot von Movis ist das Case Management bei längeren Absenzen wegen Krankheit. Davon hat zum Beispiel Laura Huber* kürzlich profitiert. Die 32-Jährige hatte letzten Sommer im 5. Schwangerschaftsmonat eine Spontangeburt, bei der ihr Kind starb. Bei der darauffolgenden Operation verlor sie viel Blut. «Zusätzlich zur Trauer um das verlorene Kind war ich körperlich lange sehr schwach», erzählt die administrative Mitarbeiterin eines grossen Unternehmens. «Ich war absolut nicht belastbar, konnte mich nicht konzentrieren, hatte Schlafstörungen und Ängste.» Ein halbes Jahr fiel sie ganz aus. Danach unternahm sie erste Arbeitsversuche – erst nur stundenweise, dann steigerte sie die Arbeitszeit langsam aber sicher. Sozialberaterin Weekes begleitete den Prozess kontinuierlich und übernahm die Kommunikation mit den Vorgesetzten. Obwohl der Arbeitgeber viel Verständnis zeigte, sei sie sehr froh gewesen um die neutrale Person, sagt Huber. «Sie zeigte mir das richtige Tempo auf und bremste mich, wenn ich ungeduldig wurde.» Unterdessen arbeitet die junge Frau wieder mit dem gleichen Pensum wie vor dem Vorfall. Um das traumatische Ereignis aufzuarbeiten, geht sie regelmässig in eine psychologische Beratung.

Movis betreut sowohl kleinere als auch mittlere und grosse Unternehmen unterschiedlicher Branchen, darunter zum Beispiel die Rhätische Bahn, H&M, SRF, die Mobiliar-Versicherung, das Universitätsspital Zürich oder die Zürcher Kantonalbank. Um bei seinen Kunden eine gesunde und positive Atmosphäre zu fördern, ist die Beratungsfirma auch in der Prävention tätig. Für Führungskräfte bietet sie zum Beispiel Seminare an zu Themen wie psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Die regelmässigen Befragungen der Mitarbeitenden, in denen sie ihre Leistungsfähigkeit einschätzen, geben zudem wertvolle Hinweise auf das Arbeitsklima. «Stellen wir fest, dass die betrieblichen Themen in einem Unternehmen massiv zunehmen, suchen wir das Gespräch mit den Leitungspersonen», sagt Sharon Weekes. «So können sie rechtzeitig Massnahmen ergreifen.»

Corona hält Beratende auf Trab

Ein weiterer grosser Player in diesem Gebiet ist die Firma Icas, die ihre Dienste in der Schweiz und in diversen anderen Ländern anbietet. Ihre 60 Mitarbeitenden sind Ansprechpartner für schweizweit etwa 400 000 Beschäftigte. «Die Pandemie hat uns stark auf Trab gehalten», sagt Geschäftsführerin Eliane Bucher. «Die Leute sind extrem belastet.» Ging es vor 15 Jahren in den Beratungen noch zu 80 Prozent um rechtliche und lebenspraktische Themen, so seien unterdessen die emotionalen Probleme in der Überzahl, erzählt Bucher. Das Arbeiten zuhause habe bei vielen zu Isolationsgefühlen geführt. Zudem hätten Beziehungsprobleme zugenommen. Auch nach den teilweisen Lockerungen zeichne sich noch keine Trendwende ab, stellt Bucher fest. «Viele macht die Zukunft nach wie vor Angst.»

Angesichts dessen, das mittlerweile fast jede zweite IV-Rente aufgrund psychischer Probleme gesprochen wird, seien Frühinterventionen besonders sinnvoll, betont die Icas-Geschäftsführerin. Dass die niederschwelligen, vom Arbeitgeber bezahlten Beratungen Wirkung zeigen, kann sie mit Zahlen belegen: Gemäss Untersuchungen ihrer Firma sanken die Absenzen bei den Nutzerinnen und Nutzern der Dienstleistungen von 34 Prozent auf 8 Prozent – für viele Arbeitgeber wohl einer der wichtigsten Gründe, sich das Angebot etwas kosten zu lassen.

*Namen geändert

01.10.2021

«Stellen wir fest, dass die betrieblichen Themen in einem Unternehmen massiv zunehmen, suchen wir das Gespräch mit den Leitungspersonen»,
Sharon Weekes

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Autor

  • Andrea Söldi

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