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«Wir sind dem Optimismus verpflichtet»

Die Herausforderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation sind immens. Stephan Sigrist plädiert für eine differenzierte Digitalisierung, die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und die Abkehr von einer einseitigen Informationsvermittlung.

Die Arbeitswelt ist im Umbruch und hat grosse Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Was passiert da gerade?

Stephan Sigrist: Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren tatsächlich fundamental verändert. Allerdings sollte man die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt auch nicht überbewerten. Die Berichterstattung ist teilweise überzogen. Man hört von Tausenden von Jobs, die aufgrund von Automatisierung und künstlicher Intelligenz verschwinden werden. Das ist nur eine Seite der Entwicklung. Es entstehen auch viele neue Berufe. Zudem gibt es Tätigkeiten, die trotz Digitalisierung nicht verschwinden werden, zum Beispiel Lehrberufe oder Handwerk. Der Digitalisierungsschub erfolgt jedoch in einer Geschwindigkeit und Radikalität, wie man sich das nicht vorstellen konnte. Viele Prozesse werden automatisiert, damit wir effizienter produzieren können. Und die Arbeitswelt verändert sich grundsätzlich. Das klassische Büro zum Beispiel hat ausgedient, flexible Arbeitsformen wie Homeoffice nehmen zu.

Die Veränderungen betreffen auch Werte.

Die Work-Life-Balance und Gesundheitsfragen haben einen zunehmend grösseren Stellenwert und beeinflussen fast alle unsere Entscheidungen. Die Menschen überlegen sich, ob sie sich dem Stress der Arbeitswelt aussetzen wollen – sofern sie sich das wirtschaftlich leisten können. Die Sinnfrage ist bedeutsam. Wie will ich arbeiten? Welchen Wert hat die Arbeit für mich? Wie wichtig sind für mich Zeit und Geld? Auch das verändert die Arbeitswelt: die andere Gewichtung von Werten und Einstellungen.

Die Digitalisierung schreitet unablässig voran.

Die Idee, dass alles, was man digitalisieren kann, auch digitalisiert wird, trifft nicht zu. Das hat damit zu tun, dass die Leistungsfähigkeit von Algorithmen eben doch beschränkt ist, anders als man sich das im Silicon Valley erträumt hat. Die totale Robotisierung aller Tätigkeiten wird nicht eintreffen. Science-Fiction beflügelt hier die Fantasie und kann zu Ängsten führen. Kommt hinzu: Die Menschen, die Konsumentinnen und Konsumenten, wollen nicht in jeder Situation mit einem automatisierten System zu tun haben.

Wo wird automatisiert?

Bei repetitiven Prozessen, etwa beim Eintragen von Zahlen in ein Excel-Sheet, also überall, wo es einfach beschreibbare Prozesse gibt. Viele kaufmännische Aufgaben sind davon betroffen. Komplexere Aufgaben wie ein Beratungsgespräch, bei dem auch Emotionen und Empathie eine Rolle spielen und unterschiedliche Systeme ineinandergreifen, können in einem Algorithmus weniger gut abgebildet und automatisiert werden. Das bedeutet, das hochkomplexe Aufgaben durch künstliche Intelligenz nicht ersetzt werden können. Aber auch scheinbar einfachere Arbeiten wie die eines Gärtners können nicht von Computern beziehungsweise Robotern übernommen werden. Nur schon das Erkennen von Pflanzen und der Entscheid, welche bei der Pflege eines Gartens gejätet werden, ist durch künstliche Intelligenz kaum zu bewerkstelligen.

Wie sehen das Unternehmen?

Ich habe einen Detailhändler gefragt, wie wahrscheinlich es sei, dass das Verkaufspersonal durch Maschinen ersetzt wird. Er antwortete, viele Läden seien zu klein und die Kosten für eine Automatisierung nicht tragbar. Menschen, die flexibel mit den unterschiedlichen Gegebenheiten in den Filialen umgehen können, sind kostengünstiger. Es gibt also auch betriebswirtschaftliche Gründe, die gegen eine Digitalisierung sprechen – auch wenn man Abläufe digitalisieren könnte.

In den Medien machen die Überlastung des Bahnbetriebs und der Mangel an Lokführern Schlagzeigen.

Die Presse berichtet über Versäumnisse in der Vergangenheit, und zwar hinsichtlich von Fehlern bei der Personalbedarfsplanung und fehlender Lokführer. Die SBB haben daraus gelernt, so dass bereits vor etwa fünf Jahren ein Umdenken stattgefunden hat.

Ist nicht auch der reale Kundenkontakt ein Wert an sich?

Auf jeden Fall. Die Firmen werden sich überlegen, wo Kundenkontakt sinnvoll ist und wo das Kunden auch wünschen. Ich brauche als Konsument zum Beispiel keinen Kontakt zu einem Bankangestellten, um Geld abzuheben. Andererseits schätze ich es, wenn ich in einem Unternehmen am Empfang von einem Menschen begrüsst werde. Die Firmen haben verstanden, dass Beziehungen zum Wettbewerbsfaktor geworden sind. Sie werden sich daher genau überlegen, ob sie für bestimmte Dienstleistungen nicht doch Menschen einsetzen, selbst wenn die Digitalisierung des Prozesses kostengünstiger ist.

Was bedeutet die Entwicklung für die Laufbahnplanung? Karrieren verlaufen schon lange nicht mehr linear. Quereinstiege, Unterbrüche, häufiger Wechsel des Arbeitgebers sind normal.

Die Dynamik der schnellen Veränderungen wird anhalten. Man sollte sich verabschieden von der Vorstellung, dass alles gleichbleibt. Das lebenslange beziehungsweise lebensbegleitende Lernen ist unerlässlich für das berufliche Weiterkommen. Zentral ist die Fähigkeit zu lernen, und man sollte fähig sein, sich den sich wandelnden Verhältnissen anzupassen. Wenn wir das auf die Ebene von Skills herunterbrechen, wird klar: Es gibt wenige Berufe, bei denen man nicht verstehen muss, wie ein Algorithmus funktioniert. Man braucht nicht selbst zu programmieren, aber man sollte die dahinterliegenden Prinzipien verstehen – wie Algorithmen aufgrund von Daten zu Entscheiden gelangen. So bin ich in der Lage zu entscheiden, wo der Einsatz von künstlicher Intelligenz sinnvoll ist. Viele Tätigkeiten gerade im kaufmännischen Bereich sind in den letzten Jahrzehnten standardisiert und prozessualisiert worden: zuerst macht man das, dann dies, dann jenes. Das sind Aufgaben, die automatisiert werden können. Eine zentrale Fähigkeit für den Menschen ist daher: das Grosse und Ganze zu verstehen und ausserhalb der Planbarkeit Bereiche abzudecken, mit denen ein Algorithmus nicht zurechtkommt. Was zum Beispiel ist ein Kundenbedürfnis und was bedeutet das für die Ausgestaltung einer Dienstleistung? Wir Menschen verstehen Gesamtzusammenhänge, weil wir unterschiedliche Systeme verknüpfen können.

Wie wichtig ist Faktenwissen? In der Ausbildung verliert es an Stellenwert, weil man Fakten jederzeit leicht recherchieren kann.

Diese Haltung finde ich gefährlich. Damit ich mir eine eigene Meinung bilden kann und zu überzeugenden Entscheiden gelange, bin ich auf Fakten angewiesen, die ich gespeichert habe und neu verknüpfen kann. Ohne Basiswissen geht es nicht. Das heisst aber nicht, dass wir alles auswendig lernen müssen, wie das früher üblich war. Aber eine solide Grundausbildung mit dem entsprechenden Wissen ist wichtig. Und: rechnen, schreiben, lesen – Basiskompetenzen nehmen in Zukunft eher an Bedeutung zu. Diese Erkenntnis sollten wir auch bei Bildungsreformen im Auge behalten. Ein breites Fundament trägt im Übrigen auch zu einer lebendigen Demokratie bei. Es ermöglicht uns, Dinge zu hinterfragen und eine Rolle als kritischen Bürger wahrzunehmen. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Algorithmen Entscheide fällen, ohne dass wir diese hinterfragen.

Kritisches Denken ist wichtig. Wie kann man es lernen?

Man kann das trainieren. Schülerinnen und Schüler sollten schon in der Primarschule zu unterscheiden lernen: Was ist Fakt? Was ist Meinung? Also Medienkompetenz erlangen. Und sie sollten frühzeitig den Austausch einüben, einander zuhören und Äusserungen hinterfragen. Wichtig ist auch, dass Lernende sich nicht nur theoretisches Wissen aneignen, sondern dieses Wissen an realen Beispielen erfahren und verknüpfen. Ein praxisorientierter Unterricht hat grosse Bedeutung. Es braucht ein übergreifendes, interdisziplinäres Denken und Handeln.

Weiterbildung ist unerlässlich. Wie sieht die ideale Weiterbildung aus?

Man sollte bei der Wahl einer Weiterbildung wählerisch und kritisch sein. Es gibt unterdessen viele Weiterbildungen, die meines Erachtens wenig bringen. Sie liefern nicht das, was sie den Leuten versprechen. Viele fallen auch einer gewissen Diplomgläubigkeit zum Opfer. Je mehr Abschlüsse, desto besser, denken sie. Eine ideale Weiterbildung vermittelt zeitnah aktuell gefragte Kompetenzen – und mit einem hohen Praxisbezug. Bildungsinstitutionen sollten daher eng mit Unternehmen zusammenarbeiten und massgeschneiderte Weiterbildungen durchführen.

«Die Work-Life-Balance und Gesundheitsfragen haben einen zunehmend grösseren Stellenwert und beeinflussen fast alle unsere Entscheidungen.»
Stephan Sigrist, Gründer und Leiter W.I.R.E

Worauf achten Sie, wenn Sie jemanden einstellen?

Eine solide Basis ist wichtig. Wer beispielsweise einen ETH-Abschluss mitbringt, hat gezeigt, dass er eine höchst anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen hat, wo er oder sie auch Disziplin und Hartnäckigkeit gezeigt hat. Dann schaue ich vor allem auf die Persönlichkeit, auf den Charakter, die Lernbereitschaft und den Willen, sich einzubringen.

Wir leben in einer Zeit grosser Umbrüche: Digitalisierung und Automatisierung, Disruption von bestehenden Verhältnissen, Pandemie, Schuldenwirtschaft und Klimakrise. Das verunsichert die Menschen. Wie können wir uns angesichts des Wandels eine gewisse Gelassenheit erhalten?

Auch hier hilft es, ein gesamtheitliches Bild zu erlangen. Negative Nachrichten sind aufgrund der digitalen Vermittlung und aufgrund von Medienmechanismen dominant. Schlechte Nachrichten verkaufen sich besser, sind gefragt. Es gibt aber auch viele positive Entwicklungen, die wir ebenfalls zur Kenntnis nehmen sollten. Auch wenn die Corona-Krise für Wirtschaft und Gesellschaft verheerend war, haben wir auch einiges gelernt und erkannt, was wichtig ist: neue Arbeitsformen, die Bedeutung von Beziehungen, ein bewusster Umgang mit der Zeit. Und die Klimakrise lernt uns, dass wir uns von der Verschwendung von Ressourcen und Ausbeutung des Planeten verabschieden und eine nachhaltige Lebensführung anstreben müssen. Wir sollten verstehen, dass ein einfacheres Leben nicht zwingend eine schlechtere Lebensqualität bedeutet. Es braucht also neben den Negativschlagzeilen auch positive Zukunftsbilder. Wenn solche Bilder fehlen, führt das zu Resignation.

Was ist zu tun?

Wir könnten in der Schweiz mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, wie ein nachhaltiges Leben möglich ist. Die klassischen Schweizer Tugenden helfen uns dabei, den Wandel zu meistern: Hartnäckigkeit, Verlässlichkeit, Disziplin und Innovationswille. Viele erleben zwar eine gewisse Machtlosigkeit, was ich verstehe, und optimieren daher lediglich ihr Privatleben. Aber ich denke, wir sollten gemeinsam das Gute anstreben. Es mag sich pathetisch anhören, und doch: Wir haben eine Grundverpflichtung zu einem Optimismus. Alles andere wäre nicht verantwortungsvoll gegenüber unseren Mitmenschen, Familien und dem Planeten. Das wäre eine Kapitulation. Ich spreche nicht von einem blinden Optimismus, im Sinne von: Die Technologie hat für alles eine Lösung. Ein kritischer Optimismus heisst für mich: realistisch sein und künftige Herausforderungen frühzeitig identifizieren. Einen Beitrag dazu versuchen wir mit der neuen Plattform future society association zu leisten.

Veröffentlich am 29.09.2021

Zur Person

  1. Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter von W.I.R.E. Der unabhängige Think Thank befasst sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis mit der Gestaltung der Zukunft. Die Grundlage dafür bildet eine systematische Früherkennung relevanter Entwicklungen und deren Übersetzung in langfristige Strategien und Handlungsfelder für private und öffentliche Organisationen und deren Entscheidungsträger. 

Autor

  • Rolf Murbach

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