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«Beziehungen stärken die Gesundheit»

Digitale Medien lenken von Wesentlichem ab, rauben die Konzentration und können krank machen. In Krisensituationen, wie wir es zurzeit erleben, sind sie jedoch von grosser Bedeutung, sagt Stefan Büchi.

Context: Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die psychische Gesundheit aus?

Stefan Büchi: Berufliche Veränderungen, wie sie die Digitalisierung mit sich bringt, führen oftmals zu einer höheren Belastung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zu Überforderung und Burnout. Dies sind unter anderem Gründe, weshalb Menschen zu uns in die Klinik kommen. Wir behandeln Patientinnen und Patienten im Alter von 20 bis 80 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt bei 50, das heisst Frauen und Männer, die relativ spät mit der Digitalisierung in Berührung kamen. Ein grosses Thema ist die Dauerbelastung durch ständige Erreichbarkeit. Das führt dazu, dass Beziehungen weniger gepflegt werden, was der Gesundheit abträglich ist. Sehr viele Patienten berichten auch von starken Schlafstörungen, weil sie tagtäglich zu vielen Informationen ausgesetzt sind und nicht mehr abschalten können. Schlaf ist zentral für die psychische Gesundheit.

Die Informationsflut überfordert die Menschen.

In Krisenzeiten, wie wir es zurzeit erleben, sind digitale Medien von grosser Bedeutung. Sie erlauben, uns trotz der Einstellung des öffentlichen Lebens mit unseren Mitmenschen in Kontakt zu bleiben. In normalen Zeiten aber kommen viele mit der Informationsflut nicht zurecht. Sie haben verlernt, sich auf etwas zu konzentrieren. Diese Fähigkeit ist für das psychische Wohlbefinden unerlässlich. Das damit einhergehende Multitasking führt zu einer grossen inneren Unruhe und Gereiztheit. Es ist wichtig, nur auf eine Sache zu fokussieren. Das trainieren die Patienten bei uns – beispielsweise mit Achtsamkeitsübungen.

Lassen sich die Patientinnen und Patienten darauf ein?

Ja, denn wir verbieten digitale Medien nicht, sondern laden unsere Patientinnen und Patienten ein, neue Verhaltensweisen zu erproben und vor allem ein Bewusstsein des sinnvollen Umgangs mit Medien zu erlangen. So ist es hilfreich, wenn Smartphones und Tablets für ein paar Stunden beiseitegelegt und auch vor dem Schlafengehen auf digitale Medien verzichtet wird. Ziel ist, sich von der Abhängigkeit der Internetnutzung zu befreien. Ein zweiter Ansatz ist das analoge Heilen durch sinnliche Erfahrungen. Die digitale Welt ist wenig sinnlich, virtuelle Erfahrungen sind teilweise oberflächlich und unecht. In unseren Therapien setzen wir daher neben der klassischen Gesprächstherapie auf sinnliche Erfahrungen: meditieren, malen und gestalten, musizieren, spazieren und Sport treiben. Den meisten gelingt es, innerhalb von zwei bis drei Wochen eine Veränderung ihres Verhaltens und eine Besserung ihres gesundheitlichen Zustands herbeizuführen.

Ist das nachhaltig?

Wir erhalten von unseren ehemaligen Patientinnen und Patienten die Rückmeldung, dass es ihnen mehrheitlich gelingt, sich selbst nicht mehr auszubeuten und sich von zu viel Arbeit und der problematischen Nutzung digitaler Medien abzugrenzen. Sie haben gelernt – und das ist etwas vom Wichtigsten – auf sich zu achten. Sie nehmen wahr, wie es ihnen geht, geben neben der Arbeit auch anderen Tätigkeiten Raum und tun etwas Gutes für sich. Sie haben erfahren: Ich kann und muss meine Bedürfnisse wahrnehmen, was zugegebenermassen oftmals schwierig ist, wenn man nur arbeitet. Sich der Fremdbestimmung entziehen und auf innere Ansprüche eingehen, das ist zentral für die psychische Gesundheit.

«Das Multitasking führt zu einer grossen inneren Unruhe und Gereiztheit. Es ist wichtig, nur auf eine Sache zu fokussieren. Das trainieren die Patient:innen bei uns – beispielsweise mit Achtsamkeitsübungen.»
Stefan Büchi, Leiter Schwerpunkt Psychosomatische Erkrankungen

Was ist besonders wichtig?

Das Wichtigste ist, zu merken, wie es mir geht. Dafür muss ich in Kontakt mit mir sein. Wenn ich mich energetisch gut fühle und zuversichtlich bin, dann stimmt die Lebensbalance. Nach psychischen Krisen sind die Menschen meist hochmotiviert, darauf zu achten und dementsprechend zu leben. Denn sie wissen: Wenn ich es nicht tue, werde ich wieder krank.

Gibt es einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Patientinnen und Patienten?

Bei den Jüngeren stellen wir seit ein paar Jahren eine Zunahme an psychischen Problemen fest. Das belegen auch Studien. Besonders besorgniserregend ist die Zunahme der Suizidalität. Bei jungen Menschen in Krisen kommt sehr schnell das Thema auf: Will ich noch leben oder nicht? Das war vor zehn Jahren deutlich weniger der Fall.

25 Prozent der Jugendlichen weisen einen problematischen Gebrauch des Smartphones auf.

Der durchschnittliche Internet-Konsum liegt pro Tag bei drei Stunden. 20 Prozent sind sogar fünf Stunden und mehr online. Das führt zu Problemen bei den sozialen Interaktionen. Depressionen und Angststörungen nehmen zu. Zudem bricht die Leistungsfähigkeit ein.

Weshalb kommt es zu diesen Symptomen?

Selbstwert und Selbstsicherheit sind für Jugendliche besonders relevante Themen. In den sozialen Medien werden diese Themen bedient. Follower und Likes bestätigen das eigene Handeln und tragen zur Selbstsicherheit bei. Doch diese Bekundungen sind flüchtig und haben meiner Einschätzung nach nicht die gleiche Tiefe wie reale Interaktionen. Online-Handeln findet gewissermassen auf einem tieferen Niveau der Interaktion statt. Die Krux: Wenn wir zu viel Zeit in digitalen Welten verbringen, fehlt uns die Zeit für reale Begegnungen, die Nahrung für die Seele sind.

In den sozialen Medien vergleicht man sich unablässig.

Jeder und jede stellt eine ideale Version von sich selbst zur Schau: inszenierte Bilder, wunderbare Orte, gestylte und gestählte Körper, viel Coolness und schöner Schein. Man vermittelt nur das Beste von sich, ein Reigen der Superlative. Das produziert einen grossen Druck. Unablässiges Vergleichen mit anderen führt zu einer Insuffizienz-Position, der Angst, nicht zu genügen oder nicht mithalten zu können, und führt zu Unzufriedenheit. Die anderen sind schöner, besser, schneller, klüger. Für das Selbstwertgefühl ist das nicht förderlich.

Wie kann man das durchbrechen?

Indem man versucht, sich nicht zu stark an den anderen zu orientieren, sondern sich darauf zu besinnen, was für einen selbst wichtig ist. Das bedeutet auch Verzicht auf all die Instant-Informationen, digitalen Aufregungen und Fake News. Menschen streben nach Sinn. Sie wollen glücklich sein. Wir beobachten bei unseren Patientinnen und Patienten, dass eine Krise häufig zu einer Neuorientierung führt. Insofern sollten wir eine Krise auch als Chance begreifen.

Arbeitgeber tragen zum hohen Druck bei. Viele Menschen fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz denn auch gestresst, das zeigen Studien regelmässig. Betriebliches Gesundheitsmanagement ist daher besonders wichtig. Ist das bei Arbeitgeber:innen angekommen?

Viele Arbeitgeber:innen sind sich dessen bewusst. Sie sollten den Mut haben, Kontrollen zu minimieren, Eigenverantwortung zu fördern und eine Unternehmenskultur zu pflegen, die möglichst angstfrei ist. Menschen wollen sich am Arbeitsplatz wohlfühlen, dann leiden sie auch weniger unter Stress. Viele Firmen zeigen ermutigende Bestrebungen in diese Richtung. Aber eines ist klar: Das Tempo in der Arbeitswelt hat aufgrund der Digitalisierung enorm zugenommen. Das können wir nicht einfach ändern und ist in vielen Bereichen ja auch durchaus sinnvoll. Doch braucht jeder Mensch im Arbeitsprozess Freiräume und die Möglichkeit, sich zu erholen.

«Menschen wollen sich am Arbeitsplatz wohlfühlen, dann leiden sie auch weniger unter Stress. Viele Firmen zeigen ermutigende Bestrebungen in diese Richtung.»
Stefan Büchi

Zum Beispiel?

Wir haben in unserer Klinik eine zusätzliche Ärztin eingestellt. Dadurch haben andere die Möglichkeit, pro Jahr einen Monat unbezahlten Urlaub zu nehmen, sofern sie das wünschen und es sich leisten können. Firmen positionieren sich durch solche Angebote auch als attraktive Arbeitgeber, was angesichts des Fachkräftemangels vorteilhaft ist. Schliesslich sollten Betriebe analoge Bedürfnisse befriedigen: Events, Feiern, gemeinsame Aktivitäten. Wir können nur hoffen, dass dies bald wieder möglich sein wird. Von einem Unternehmen weiss ich, dass die Mitarbeitenden einmal pro Woche gemeinsam kochen und essen. Einkaufen, Gemüse rüsten, Pasta kochen, sich austauschen – das sind andere Erfahrungen, als stundenweise vor dem Bildschirm zu sitzen. Die Mitarbeitenden können sich dadurch ein wenig aus dem Digitalen und Virtuellen herausnehmen. Und sie begegnen sich in einem anderen, realen Kontext. Das ist gesund.

Sie haben Schlafstörungen angesprochen. Die durchschnittliche Schlafzeit hat in den letzten vierzig Jahren stark abgenommen. Sie ist unterdessen 50 Minuten kürzer. Ein Problem?

Schlaf ist die wichtigste Regenerationsphase. Zu wenig Schlaf bedeutet, sich nicht zu erholen. Die Folgen sind: grössere Infektionswahrscheinlichkeit, Tendenz zu Übergewicht, mehr Ängste, mehr Depressionen und ein Gefühl der Unruhe, des Aufgekraztseins. Der zunehmende Konsum digitaler Medien trägt dazu bei.

Es gibt Leute, die brauchen wenig Schlaf.

Ja, das ist individuell. Entscheidend ist nicht, ob ich acht Stunden oder weniger schlafe, sondern wie ich mich fühle, wenn ich am Morgen erwache: motiviert, mit viel Energie oder erschöpft. Ein einfaches Mittel für einen guten Schlaf ist Bewegung. Man weiss das eigentlich, aber längst nicht alle setzen die Erkenntnis im Alltag um. Sie überfordern den Kopf und unterfordern den Körper. Die Balance ist wichtig.

Sie plädieren für mehr reale Interaktion und weniger Austausch über die sozialen Medien. Wir beobachten aber viele Menschen, die beispielsweise gemeinsam in einem Restaurant sitzen und aufs Handy starren – sie können es offenbar nicht lassen, sind süchtig.

Das ist tatsächlich ein Problem. Wir signalisieren dem anderen: Du interessierst mich nur bedingt. Es ist eine Art Zurückweisung, der andere fühlt sich möglicherweise nicht ernstgenommen. Das schadet dem Selbstwertgefühl und der Beziehung, der man sich entzieht. Wir sind nicht im Hier und Jetzt, sondern anderswo, wo es vermeintlich spannender ist. Wir brauchen aber das Gegenüber, denn wir sind keine Monaden, können nicht ohne Umwelt existieren. Wir sind abhängig von Beziehungen, spiegeln uns unablässig und entwickeln uns dank Begegnungen. Denken Sie nur, wie bereichernd ein gutes Gespräch sein kann. Wenn das nicht mehr möglich ist, ist das fatal. Nun, als Erwachsene können wir diesen Umstand reflektieren und unser Verhalten ändern respektive unser unaufmerksames Gegenüber darum bitten. Weniger optimistisch bin ich, wenn ich mir vorstelle, welche Auswirkungen der Handykonsum von Erwachsenen in Gegenwart von Kleinkindern haben kann.

Das heisst?

Menschwerdung hat mit Spiegelung zu tun. Das Kleinkind merkt, ob und wie es von der Mutter oder dem Vater angeschaut wird. Es hilft ihm herauszufinden, wer es ist. Die Reaktionen von Erwachsenen auf die Äusserungen eines Babys – weinen, staunen, lächeln – sind enorm wichtig. Es wird gewahr, dass die Welt auf seine Bedürfnisse reagiert und entwickelt dadurch Vertrauen: Ich bin wirksam. Das Kind entwickelt sich. Das Ich und die Welt sind in einer lebenswichtigen Interaktionsschlaufe. Die Mimik eines Erwachsenen zum Beispiel ist für ein Kleinkind bedeutsam. Starrt nun eine Mutter oder ein Vater unablässig aufs Handy oder Tablet – was wir häufig beobachten – so wird diese Interaktionsschlaufe unterbunden. Sogenannte Still-Face-Experimente zeigen das eindrücklich. Das Kind fühlt sich sofort unwohl, irritiert, weint, wenn sich das Gegenüber von ihm abwendet, und versucht alles, die Beziehung wiederherzustellen. Wenn Kleinkinder nicht mehr erfahren, dass das Umfeld auf ihre Äusserungen antwortet, führt das zu Selbstbild- und Bindungsstörungen – die sichersten Prädikatoren für spätere psychische Störungen. Es beunruhigt mich, was möglicherweise auf uns zukommt. Eine Vernachlässigung der Interaktionen ist eminent problematisch für die Entwicklung eines Kindes und für Beziehungen – sei es durch das eigene Online-Verhalten oder das Ruhigstellen des Kindes mit einem Handyspiel. Ich sehe hier einen grossen Aufklärungsbedarf und die Notwendigkeit, das Verhalten zu ändern.

Veröffentlicht am 18.3.2020

«Wir sind abhängig von Beziehungen, spiegeln uns unablässig und entwickeln uns dank Begegnungen. Denken Sie nur, wie bereichernd ein gutes Gespräch sein kann. Wenn das nicht mehr möglich ist, ist das fatal.»
Stefan Büchi

Zur Person

Professor Dr. med. Stefan Büchi ist Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg in Meilen, einer Spezialklinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Schwerpunktleiter für psychosomatische Erkrankungen.

Autor

  • Rolf Murbach

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