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Digitale Balance: Für einen bewussten Umgang mit digitaler Abhängigkeit

Jederzeit erreichbar. Überall und immer. Die Journalistin, Autorin und Mental Health Aktivistin Anna Miller gibt im Interview einen Einblick, warum Unternehmen eine digitale Unternehmenskultur brauchen und warum analoge Aktivitäten einen schweren Stand haben in digitalen Zeiten.

Die Digitalisierung nimmt Einzug in immer mehr Lebensbereiche. Was sind die Konsequenzen für unser privates und berufliches Leben?

Anna Miller: Es bedeutet, dass wir einem unendlichen Strom an digitalen Pendenzen ausgesetzt sind und das nicht einfach von neun bis fünf Uhr. Sondern immer und überall. Eilmeldungen von Medien, Benachrichtigungen von Nachrichten-Apps und Handlungsaufforderungen, die über unser Smartphone eintreffen, die gleichbedeutend sind mit neuen Aufgaben und Arbeit.

Was macht diese ständige Erreichbarkeit mit uns?

Das zentrale Nervensystem des Menschen wechselt zwischen Anspannung und Entspannung – Wir brauchen beide Phasen, um gesund zu sein. Die ständige Erreichbarkeit hat dazu geführt, dass wir immer angespannt sind und nicht mehr zur Ruhe kommen. Was zu einer starken Ermüdung des Systems führt. Die Folgen können Schlafstörungen, Angst- und Depressionserkrankungen, aber auch physische Auswirkungen wie chronische Schmerzen oder gar ein Herzinfarkt sein.

Wenn es solche Auswirkungen auf unsere geistige und körperliche Gesundheit hat, warum klinken wir uns dann nicht einfach aus?

Weil der Mensch ein soziales Wesen ist. Wir haben Angst, dass unsere Nichterreichbarkeit eine soziale Bestrafung mit sich bringt. Beispielsweise, dass wir aus einer Gruppe ausgeschlossen werden. Das ist eine Urangst des Menschen. Denn der Ausschluss aus einer Gruppe bedeutete in einer frühen Zeit den sicheren Tod. Das tragen wir immer noch in uns und wollen deshalb das Risiko oft nicht eingehen, uns abzugrenzen.

«Wir haben Angst, dass unsere Nichterreichbarkeit eine soziale Bestrafung mit sich bringt.»
Anna Miller

Ist es wirklich nur der soziale Druck und die Angst, die uns daran hindern, weniger Zeit online zu verbringen?

Nein, es hängt auch damit zusammen, dass viele digitale Aktivitäten, wie Netflix, YouTube, Instagram oder WhatsApp dazu führen, dass der Körper sehr viel Dopamin ausschüttet, ein Botenstoff, der auch als «Glückshormon» bezeichnet wird.

Glückshormone sind doch etwas Positives… oder gibt es einen Haken?

Klar, wir fühlen uns dann kurzfristig besser. Eine Auswirkung ist, dass wir, wenn es uns nicht gut geht, zum Smartphone greifen, weil es das einfachste Mittel ist, um uns abzulenken. Der französische Psychoanalytiker Michaël Stora beschreibt das Smartphone als «drahtloses Kuscheltier». Schwierig ist dabei, dass andere Aktivitäten, die uns in diesem Moment guttun würden, wie Sport treiben oder lesen, einen viel kleineren Dopaminkick versprechen. Daher greifen wir dann doch wieder zum Smartphone.

Warum geschieht das?

Weil wir Menschen unsere Willenskraft systematisch überschätzen. Liegt das Smartphone sichtbar auf dem Tisch, ist es wie mit den Chips oder Nüsschen bei einem Apéro: Am Schluss knickt man ein und kann schwer damit aufhören. Ich beobachte das auch bei mir selbst: Komme ich am Abend nach Hause und habe die Wahl zwischen einem Puzzle und Netflix, braucht es eine enorme Willensanstrengung, mich für das Puzzeln zu entscheiden. Vor allem dann, wenn der Laptop schon aufgeklappt auf dem Sofa liegt.

Das hat schon etwas von einem Suchtverhalten…

Wir stecken als Gesellschaft mitten in einer kollektiven Sucht. Wir sind nicht am Anfang oder am Ende der Sucht, sondern mittendrin.

«Wir sind nicht am Anfang oder am Ende der Sucht, sondern mittendrin.»
Anna Miller

Was ist die Folge davon?

Dass wir als Gesellschaft auf dem direkten Weg in ein kollektives, digitales Burn-out sind. Das muss uns klar sein. Wir müssen damit beginnen, unser Online-Verhalten zu hinterfragen und im besten Fall auch zu ändern. Doch Einsicht ist der erste Schritt. Am besten versucht man mal ein paar Tage lang, sein eigenes, digitales Nutzungsverhalten zu beobachten, möglichst wertfrei. Und auch zu schauen: Wann fühle ich mich gut? Wann schlecht? Was nervt mich an meinem Verhalten? Und wie fühle ich mich nach langen Zeiten online? Wenn man aber ständig gestresst ist, nicht schlafen kann oder häufiger aggressiv ist, dann kann das mit dem Smartphone-Konsum zusammenhängen.

Was können wir generell tun, um dieser Problematik zu begegnen?

Zum einen wie gesagt, dass es uns bewusst wird und wir achtsamer mit digitalen Möglichkeiten umgehen und anerkennen, dass digitaler Stress realer Stress ist. Zum anderen, dass wir aktiv einen Beitrag leisten, eine neue, digital achtsame Kultur zu erschaffen, bei der die Erreichbarkeiten, Dringlichkeiten und das Erwartungsmanagement geklärt sind – sowohl im privaten wie auch im beruflichen Kontext.

Wie könnte das umgesetzt werden?

Im Privaten, dass es nicht gleich das Ende einer Beziehung bedeutet, wenn man nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten antwortet. Und im Beruflichen, dass in Unternehmen geklärt ist, wie beispielsweise mit Ferienabwesenheiten umgegangen wird. Aber auch, dass eine Führungskraft, wenn sie am Abend noch arbeitet und Mails verschickt, klar kommuniziert, dass sie erst am nächsten Morgen eine Antwort erwartet. Das kann zum Beispiel in der Mail-Signatur vermerkt werden.

Gibt es noch weitere Punkte, die zu einer digitalen Unternehmenskultur gehören?

Für mich gehören beispielsweise auch die Regeln an Sitzungen geklärt: Treffen wir uns über Zoom, können wir klären, dass wir alle anderen Programme schliessen und das Smartphone beiseite lassen und ganz zuhören. Kommt jemandem etwas dazwischen, kann er aus dem Bild laufen. So ist klar: Wer hier ist, ist präsent. Analog zum physischen Raum. Wer etwas präsentiert oder spricht, hat das Recht auf Aufmerksamkeit. Dann bleiben die Handys in der Tasche und wenn die Laptops nicht gebraucht werden, müssen sie auch nicht aufgeklappt oder zur Sitzung mitgebracht werden. Für Notizen eignet sich ein leeres Blatt Papier und ein Stift. Dabei geht es nicht darum, sich die guten, alten Zeiten herbeizuweinen, sondern schlicht darum, auch in digitalen Zeiten Achtung, Menschlichkeit und Fokus zu wahren. So sind am Ende nicht nur wir selbst gesünder und glücklicher, sondern Unternehmen auch erfolgreicher.

Veröffentlicht am 10.6.2022

«Wir müssen damit beginnen, unser Online-Verhalten zu hinterfragen und im besten Fall auch zu ändern.»
Anna Miller

Zur Person

  1. Anna Miller, 1987, ist freie Journalistin, Buchautorin, Mental Health Aktivistin Sie hat im März 2021 das Digital Balance Lab gegründet, spricht als Expertin im Bereich Digital Wellbeing auf Kongressen und berät Unternehmen zum Thema Digital Balance @work.

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  2. Ein Laboratorium für menschliches Wachstum und psychische Gesundheit in einer immer digitaleren Welt. Und ein Begegnungsraum für alle, die daran glauben, dass die Digitalisierung der Zukunft nach menschlichen Werten gestaltet sein muss.

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  3. Anna Miller hilft mit konkreten Tipps und Übungen sich des eigenen Umgangs mit Smartphone und Bildschirmzeit bewusst zu werden und gleichzeitig eine neue Vision für ein gutes Leben zu entwickeln. Dafür verbindet sie wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Positiven Psychologie, Neuropsychologie, Motivations- und Beziehungsforschung. Damit wir wieder mit den wichtigen Dingen in Verbindung treten.

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Autor

  • Dominic Karrer

    Junior Communications Manager beim Kaufmännischen Verband Schweiz

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