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«Beim Lernen braucht es Abwechslung, Bewegung und Pausen»

Sich für Tage ins stille Kämmerlein einschliessen, wenn eine Prüfung ansteht? Keine gute Idee, findet Hirncoach Barbara Studer – und erklärt, wie das Gehirn effizient Stoff aufnimmt.

Angenommen, ich müsste für eine anspruchsvolle Abschlussprüfung im Rahmen einer Weiterbildung lernen und sehe einen Riesenberg vor mir. Was würden Sie mir raten?

Zuerst einmal sollten Sie sich auf Ihre ursprüngliche Motivation besinnen. Wenn man gestresst ist und sich überfordert fühlt, kann es sein, dass man das Ziel etwas aus den Augen verliert. Lernen Sie das einfach, weil Sie ein Zertifikat wollen, oder erkennen Sie, was das Wissen Ihnen nützt?

Ok. Und dann? Wie lässt sich ein umfangreicher Lernstoff bewältigen?

Bevor man sich blindlings hineinstürzt, verschafft man sich Übersicht: Den Stoff nach Themen ordnen und in kleinere Schritte aufteilen, damit der Umfang weniger bedrohlich wirkt. Danach muss man planen: Prioritäten setzen und die Zeit fürs Lernen und Repetieren gut einteilen. Sonst riskiert man, sich irgendwo in den Details zu verlieren und am Ende kommt man nicht mehr dazu, alle wichtigen Stoffbereiche zu bearbeiten. Zudem sollte man sich stets vor Augen halten, welche Fragen man am Schluss beantworten können muss.

Ich habe also den Überblick gewonnen und einen Zeitplan bis zur Prüfung erstellt. Was nun?

Jetzt gilt es, eine Strategie zurecht zu legen. Diese hängt von der Art des Stoffes ab. Zum Beispiel von der Komplexität.

Was für eine Lernstrategie empfehlen Sie, wenn es viel zu lesen gibt?

Wenn die Komplexität nicht riesig ist, eignet sich das Speed reading. Dabei hüpft man sozusagen über die Zeilen hinweg statt zu schleichen. Bewährt hat sich auch die sogenannte SQ3R-Methode (Survey-Question-Read-Recite-Review): Als Erstes verschafft man sich eine Übersicht über den Text, ohne ihn zu lesen, etwa anhand der Überschriften. Danach überlegt man sich, welche Fragen beantwortet werden müssen und sucht die entsprechenden Textstellen. Erst jetzt liest man die Abschnitte oder Kapitel genau, markiert Stellen und notiert sich Randbemerkungen. Im vierten Schritt ruft man das Gelesene ab und versucht, die gestellten Fragen in eigenen Worten zu beantworten. Am Schluss überprüft man, ob man alles verstanden hat und was man beim Lesen dazugelernt hat.

«Zudem sollte man sich stets vor Augen halten, welche Fragen man am Schluss beantworten können muss.»
Barbara Studer

Was empfehlen Sie bei komplexen Inhalten?

Zum Beispiel Visualisierungen wie Mindmaps, auf denen man Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen den Sachverhalten darstellen kann. Zudem sollte man möglichst aktiv an den Lernstoff herangehen. Sich Fragen dazu stellen und eigene Lösungsansätze entwickeln. Damit sich im Gehirn stabile Verbindungen zwischen den Synapsen aufbauen, muss man sich mehrmals und auf verschiedene Arten mit dem Stoff beschäftigen. Wichtig sind auch positive Emotionen.

Woher sollen diese kommen, wenn man etwas lernen muss, das einen nicht gross interessiert?

Dann kann man etwas nachhelfen: Setzen Sie sich aufrecht hin, lächeln Sie und stellen Sie sich etwas Angenehmes vor, bevor Sie sich vertiefen. Versuchen Sie, den Stoff mit Emotionen aufzuladen: Humor, Ironie, Assoziationen. Gehen Sie es spielerisch an: Schlüpfen Sie zum Beispiel mal in die Rolle eines Professors und dozieren Sie mit sonorer Stimme. Motivieren kann auch, gemeinsam mit anderen zu lernen. Und sagen Sie sich immer wieder selber: «Ich kann das schaffen.» Glauben Sie an Ihre Fähigkeiten. Und seien Sie nicht zu streng mit sich. Klopfen Sie sich selber immer wieder mal auf die Schulter, wenn Sie ein kleines Teilziel erreicht haben.

Wie lernt man eine Fremdsprache?

Sprachen sind ein Spezialfall. Man muss dabei sehr viel memorieren. Am besten ist es, einzelne Wörter in Sätze zu integrieren, statt sie isoliert zu lernen. Zudem soll man sie laut vor sich hersagen oder aufschreiben, am besten handschriftlich. So werden mehr Strukturen im Gehirn aktiviert als beim stillen Auswendiglernen, was die Einspeicherung begünstigt.

Früher hat man noch mehr Wissen gepaukt als heute. Primarschulkinder mussten zum Beispiel alle Gewässer der Schweiz auswendig lernen. Heute verschiebt sich der Unterricht immer stärker in Richtung Erwerb von Kompetenzen, weil man ja Facts jederzeit im Internet abrufen kann. Was bedeutet dies für den Lernprozess?

Corona hat diesen Wandel noch beschleunigt: Bei Online-Prüfungen macht Wissen abfragen weniger Sinn, weil man zu leicht schummeln kann. Somit fokussiert man stärker auf Anwendungs- und Verständnisfragen. Für die Lernenden heisst dies, dass sie  das Wissen nicht nur einfach aufnehmen, sondern vertieft verarbeiten und verstehen müssen, bis daraus eine Kompetenz wird.

«Corona hat diesen Wandel noch beschleunigt: Bei Online-Prüfungen macht Wissen abfragen weniger Sinn, weil man zu leicht schummeln kann. Somit fokussiert man stärker auf Anwendungs- und Verständnisfragen.»
Barbara Studer

Wie lernt man zum Beispiel am besten, ein neues Computerprogramm zu bedienen?

Dafür ist Elaboration gefragt: eine vertiefte Informationsverarbeitung, bei der sich im Gehirn ein Netzwerk mit mehrfachen Verknüpfungen bildet. Man sollte versuchen, die Materie wirklich zu verstehen. Das gelingt am besten, wenn man das Gelernte gleich ausprobiert und überprüft, ob es funktioniert. Damit es sich festigt, sollte man die Ausführung mehrmals wiederholen.

Sollte man sich in einer Lernphase zurückziehen, damit man ungestört ist?

Sicher braucht man einen ruhigen Ort, an dem man Ablenkungen minimieren kann. Auch das Smartphone stellt man besser mal eine Zeitlang aus. Sich über Tage einzuschliessen und über dem Schreibtisch zu brüten, ist aber meist nicht effizient. Es macht zwar den Eindruck, dass man fleissig ist. Doch das statische Pauken ist für das Gehirn nicht förderlich. Vielmehr braucht es Abwechslung, Bewegung, Pausen. Die meisten Studierenden sitzen viel zu oft und zu lange in der Bibliothek.

Wie kann man eine Lernzeit besser strukturieren?

Wichtig sind regelmässige, richtige Pausen, in denen sich das Gehirn erholen kann. Mails beantworten oder etwas lesen erfüllen den Zweck nicht. Am besten steht man auf, bewegt sich, geht an die frische Luft. Das Gehirn benötigt viel Sauerstoff – etwa einen Viertel des gesamten Körperbedarfs. Und Bewegung hilft auch, das Gelernte zu festigen, genauso wie genügend Schlaf.

Welche Art von Bewegung hilft am meisten?

Man sollte öfters etwas ausser Atem kommen. Sinnvoll sind auch Koordinationsübungen: Bewegungen übers Kreuz und solche, die für das Gehirn ungewohnt sind. Etwa Tanzen, Yoga oder mit Bällen jonglieren. Dabei wird der Informationsaustausch zwischen den beiden Hirnhälften angeregt. Zudem schüttet der Körper Hormone aus, die uns stärken, motivieren und aktivieren und damit auch die Hirnleistung verbessern.

Ist sogenanntes Brainfood sinnvoll? Studentenfutter etwa?

Auf jeden Fall. Das Gehirn macht zwar nur etwa 2 Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber fast die Hälfte der gesamten Energie. Besonders gut eignen sich als Lernproviant Bananen, Trockenfrüchte und Nüsse. Generell ist eine ausgewogene Ernährung mit genügend mehrfach ungesättigten und besonders Omega-3-Fettsäuren wichtig. Diese sind etwa in Lein-, Raps-, Soja- und Algenöl sowie in Baumnüssen, dunkelgrünem Blattgemüse und fettreichen Fischen enthalten. Zudem sollte man genug trinken, weil Flüssigkeit unsere Zellen mobilisiert.

«Sich über Tage einzuschliessen und über dem Schreibtisch zu brüten, ist aber meist nicht effizient. Es macht zwar den Eindruck, dass man fleissig ist. Doch das statische Pauken ist für das Gehirn nicht förderlich.»
Barbara Studer

Kann man eigentlich alles lernen oder stossen wir irgendwann an Grenzen?

Ein gesundes Gehirn ist enorm plastisch und trainierbar. Natürlich gibt es eine Art Flaschenhals bei der Neuaufnahme von Inhalten. Kaum jemand wird sich an einem Tag tausend neue chinesische Wörter merken können. Doch das Langzeitgedächtnis hat fast unendlich Kapazitäten.

Es gibt aber wohl schon individuelle Unterschiede?

Ja. Nicht alle haben die gleichen intellektuellen Voraussetzungen. Doch das Training ist viel wichtiger als die Ausgangslage. Oft kommen Leute, die Neues mit viel Hartnäckigkeit und Ausdauer anpacken, weiter als solche, die eigentlich mühelos lernen, aber gerade deshalb etwas bequem werden.

Mit Ihrem Programm Hirncoach arbeiten Sie auch häufig mit älteren Menschen. Da geht es wohl darum, einer Demenz vorzubeugen?

Genau. Etwa 30 Prozent der dementiellen Erkrankungen wären vermeidbar durch einen gesunden, aktiven Lebensstil. Prävention muss schon im mittleren Lebensalter beginnen, bevor erste Anzeichen des Abbaus sichtbar werden. Es bringt bereits viel, den Alltag vielseitig und anregend zu gestalten, sich viel zu bewegen und möglichst oft Kontakte zu pflegen. Denn Monotonie, Inaktivität und Isolation sind die grössten Feinde der Hirnfitness. Auch Neues zu lernen wie etwa ein Instrument oder eine Sprache sowie tanzen und Schach spielen halten das Gehirn fit. Weniger effektiv sind Kreuzworträtsel und Sudokus. Damit trainiert man nur immer genau die gleiche Fähigkeit. Dasselbe gilt für die meisten Hirntraining-Apps.

Ganz vermeiden kann man eine Demenz damit aber wohl nicht, wenn eine körperliche Veranlagung dazu besteht?

Richtig. Man kann die Entwicklung aber herauszögern und abschwächen. Eine interessante Studie wurde dazu bei Nonnen gemacht: Nach dem Tod fand man bei einigen schwere Anzeichen von Demenz im Gehirn, obwohl sie zu Lebzeiten kaum Symptome wie Vergesslichkeit zeigten. Das liegt wahrscheinlich an der Gemeinschaft, in die Nonnen eingebettet sind, am aktiven Lebensstil bis zum Tod sowie am Glauben.

Für Sie scheinen Lernen und geistige Fitness etwas sehr Lustvolles zu sein?

Unbedingt. Lernen bedeutet keineswegs nur abspeichern und reinpauken, sondern es ist ein dynamischer, freudvoller und gewinnbringender Prozess. Durch Neugier und Interesse kommen die kreativsten und innovativsten Ideen zustande.

«Etwa 30 Prozent der dementiellen Erkrankungen wären vermeidbar durch einen gesunden, aktiven Lebensstil. Prävention muss schon im mittleren Lebensalter beginnen, bevor erste Anzeichen des Abbaus sichtbar werden.»
Barbara Studer

Zur Person

  • Barbara Studer

    Die Neuropsychologin leitet die Fachstelle für Lernen und Gedächtnis Synapso an der Universität Bern. Mit ihrem Programm Hirncoach gibt sie die Erkenntnisse aus der Forschung weiter an Private – vor allem ältere Menschen – sowie Personen, die beruflich im didaktischen Umfeld tätig sind.

    hirncoach.ch

Veröffentlicht am 11.03.2021

Weitere Informationen

Autorin

  • Andrea Söldi

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