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«Es braucht auch für Führungskräfte Teilzeitjobs»

Fachkräfte sollten den Arbeitsmarkt beobachten und frühzeitig auf Veränderungen reagieren, damit sie nicht von einem Stellenverlust überrascht werden, sagt Katja Rost, Soziologie-Professorin und NZZ-Kolumnistin.

Frau Rost, Sie beobachten die Arbeitswelt seit vielen Jahren. Was beschäftigt die Menschen?

Katja Rost: Wir befinden uns aufgrund der Digitalisierung in einer radikalen Transformation. An den Arbeitsplätzen findet eine Revolution statt, die Berufe verändern sich. Viele Menschen sind verunsichert. Sie wissen nicht, wie sie sich positionieren, welche Weiterbildungen sie absolvieren sollen, um arbeitsmarktfähig zu bleiben. Hinzu kommt der demographische Wandel. Es ist ungewiss, wie lange wir in Zukunft arbeiten müssen, weil die Renten knapp werden. Auch die Arbeitgeber sind verunsichert, da der Wandel die Unternehmen ebenfalls betrifft. Ein grosses Thema ist die Gleichstellung von Frauen und Männern. Wie können Paare Familie, Freizeit und Arbeit vereinbaren? Wie teilt man sich auf, wenn Frauen und Männer Karriere machen wollen? Es braucht mehr Teilzeitjobs für Führungskräfte.

Wird sich das ändern?

Ich denke schon. Im Moment sind immer noch Leute in Führungspositionen, die nichts anderes kennen, als Vollzeit zu arbeiten. Würden sie zugeben, dass Führung auch mit einem Teilzeitjob möglich ist, stellte das ihr Lebensmodell infrage. Sie müssten dann auch Aufgaben im Haushalt und Familienarbeit übernehmen, oder sie hätten vergebens auf Kinder verzichtet.

Kann der Fachkräftemangel dem entgegenwirken? Arbeitnehmer sind anspruchsvoller geworden und formulieren ihre Bedingungen.

Gut möglich. Ich beobachte aber auch, dass viele jungen Menschen gar keine Karriere anstreben, andere Werte sind ihnen wichtiger. Wenn ich meine Studierenden frage, wer Karriere machen will, meldet sich keiner. Zu meiner Zeit war das anders. Die Unternehmen müssen also auch aus diesem Grund auf die Bedürfnisse von Angestellten eingehen.

Die Veränderungen in der Arbeitswelt bringen auch Vorteile.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind heute meist freier, geniessen mehr Autonomie und sind weniger stark klassischen Hierarchien ausgesetzt, zumindest in fortschrittlichen Unternehmen. Und die Arbeitswelt ist durchlässiger, offener geworden. Heute können Sie Ethnologie studieren und später in einer Kommunikationsabteilung arbeiten, sofern Sie den Einstieg in die Branche schaffen. Viele Studierende sammeln solche Erfahrungen während der Ausbildung.

Ältere Arbeitnehmende haben es teilweise schwierig auf dem Arbeitsmarkt. Wenn sie die Stelle verlieren, bleiben sie länger arbeitslos als jüngere. Weshalb?

Ein Grund sind die hohen Kosten für die Betriebe. Ältere Arbeitnehmer sind gegenüber jüngeren zu teuer. Das ist ein Nachteil. Eine andere Schwierigkeit sehe ich darin, dass sie oftmals firmen- und branchenspezifisches Wissen mitbringen, das nicht direkt übertragbar und damit im neuen Unternehmen wertlos ist. Der Markt ist hier sehr hart.

Zur Person
Katja Rost, 43, ist ordentliche Professorin am Soziologischen Institut der Universität Zürich. In der NZZ am Sonntag schreibt sie in eine Kolumne über Arbeitswelt und Bildung.

Man rät den Menschen: Bildet euch weiter. Ist das nicht ein etwas einfacher Ratschlag?

Es ist schon sinnvoll, wenn die Menschen am Ball bleiben, sich weiterbilden. Aber das wird überbewertet. Viele ältere Arbeitnehmer finden keine Stelle, obwohl sie sich weitergebildet haben. Wichtig finde ich, dass man den Markt beobachtet, schaut, wie sich eine Branche entwickelt, und die eigene Position im Unternehmen reflektiert. Man kann einer Kündigung zuvorkommen und sich aus einer Position der Stärke frühzeitig bei anderen Arbeitgebern bewerben. Ich habe das zweimal erlebt. Bevor mir betriebsbedingt gekündigt wurde, hatte ich mich bereits beworben und auch eine Stelle.

Das Heft in die Hand nehmen.

Wer sich über zu lange Zeit an eine Firma bindet, wird möglicherweise auf dem Arbeitsmarkt uninteressant. Es ist daher sinnvoll, vor allem in jungen Jahren, die Stelle zu wechseln, um neue Erfahrungen zu sammeln. Andererseits ist zu häufiges Wechseln auch nicht gut. Eine zu sprunghafte Laufbahn goutieren die Unternehmen nicht. Es braucht einen Mittelweg.

Man kann ja auch intern den Job wechseln und sich so weiterentwickeln.

In den 60er- bis 80er-Jahren wurde Loyalität belohnt. Später hiess es: möglichst oft den Arbeitsgeber wechseln. Die hochgelobten internationalen Talente kamen und gingen im Jahresrhythmus. Das führte unter anderem zur globalen Finanzkrise. Es gab keine Kontinuität, kurzfristige Gewinne, hohe Boni waren die Treiber der Entwicklung. Loyalität gegenüber dem Unternehmen war unbekannt. Das hat sich unterdessen geändert. Die Gruppe 45plus hat wieder bessere Chancen, im internen Arbeitsmarkt zu bestehen. Loyalität und Treue gegenüber dem Arbeitgeber zählen, interne Wechsel sind erwünscht.

Arbeitslosigkeit im Alter kann jeden treffen, auch weil wir nicht wissen, wie Berufe sich verändern und welche Qualifikationen und Kompetenzen künftig gefragt sind. Was raten Sie 35-Jährigen in Bezug auf ihre Laufbahnplanung?

Man sollte sich eingestehen, dass vieles halt auch Zufall ist. Ein Beruf verschwindet, eine Branche verändert sich, das kann man meist nicht vorhersagen. Vor zwanzig Jahren war undenkbar, welche Aufgaben die künstliche Intelligenz einmal übernehmen würde. Natürlich kann man sich durch Weiterbildung gute Bedingungen schaffen, seine Kompetenzen weiterentwickeln. Wichtig ist, wie gesagt, die Entwicklungen genau zu beobachten, und die Signale, die Veränderungen ankündigen, wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Ich staune manchmal, wie Menschen den Wandel ausblenden, der auf sie zukommt – und dann sehr überrascht und hilflos sind.

Wer eine 100-Prozent-Anstellung hat, ist von einem Arbeitgeber komplett abhängig. Viele Menschen arbeiten Teilzeit und betreiben neben ihrem Job ein eigenes Business. Ein Trend, der sich offenbar zunehmend abzeichnet. Ist Teilselbstständigkeit ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit im Alter?

Zum Teil ja. Wer ein Hobby zu einem Teilzeitjob ausbauen kann, mit dem er Geld verdient, der hat bessere Karten. Man muss aber auch sehen: Viele gehen nicht aus Freude einer zweiten Arbeit nach, sondern weil sie auf das zusätzliche Einkommen angewiesen sind. Oft sind es Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und schlecht bezahlte Jobs verrichten, etwa als Uber-Fahrer.

In einer Kolumne kritisieren Sie den Weiterbildungswahn vieler Menschen – getrieben von einem laufend grösseren und klug vermarkteten Weiterbildungsangebot. Gefragt und wohl wichtiger auf dem Arbeitsmarkt sei aber die Erfahrung. Sehen das die Unternehmen auch so?

Ja, viele Unternehmen sehen das unterdessen auch so. Natürlich ist Weiterbildung sinnvoll, wenn sie gezielt erfolgt. Was aber zählt, sind Erfahrung und Kompetenzen. Es bringt einem Betrieb wenig, wenn eine Bewerberin oder ein Beweber viele Diplome und Zertifikate mitbringt, aber wenig Leistung erbringt. Kommt hinzu, dass es unterdessen viele qualitativ fragwürdige Weiterbildungen gibt. Es herrscht ein Wildwuchs an Angeboten: ein lukrativer Markt, der funktioniert, weil alle glauben, sie müssten möglichst viele Abschlüsse erlangen. Hochschulen und andere Anbieter verdienen damit viel Geld.

Kreativität ist neben Coworking eine Schlüsselqualifikation in der Arbeitswelt 4.0. Wichtig ist auch die intrinsische Motivation. Schulen und Unternehmen setzen aber nach wie vor auf äussere Anreize: Noten, Lohn, Bonus.

Das ist tatsächlich ein Widerspruch. Und diese äusseren Anreize werden immer wichtiger. Denken wir an die unzähligen Rankings. Alles wird vermessen, ausgewertet, quantifiziert und bewertet. Den meisten ist dieser Widerspruch nicht bewusst. Sie wünschen sich Kreativität und machen dann bei den Pisa-Studien mit. Kaum jemand kann sich dem entziehen. Ich erachte diese Entwicklung als problematisch. Kritisches Denken, Reflexion und Kreativität werden in solchen Systemen nicht belohnt.

Menschen, die intrinsisch motiviert sind, also aus einem inneren Antrieb heraus tätig sind, erleben Arbeit als sinnvoll. Wie wichtig ist das?

Sehr wichtig. Menschen, die ihre Arbeit als sinnvoll erleben, sind motiviert. Sie sind möglicherweise weniger erschöpft, auch wenn sie viel arbeiten, weil eine sinnvolle Tätigkeit Energien freisetzt. In Berufen, in denen der Sinn fehlt, sind die hohen Löhne, mit denen man Angestellte ans Unternehmen bindet, auch Schmerzensgelder.

Wann ist Arbeit sinnvoll?

Wenn ich Freude empfinde. Ich liebe meine Tätigkeit, achte nicht auf die Zeit und bin – im Idealfall – eins mit der Arbeit. Zudem kann ich im Job eigene Werte leben.

Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Gleichstellung. In den letzten Jahren hat sich einiges getan, vieles wie etwa die Lohngleichheit ist aber noch nicht erreicht. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Die Unternehmen müssen auch Menschen, die Teilzeit arbeiten, eine Karriere ermöglichen, und zwar Frauen und Männern. Bis jetzt sind Toppositionen leider fast ausschliesslich von Leuten mit einem 100-Prozent-Pensum besetzt. Das muss sich ändern. Nur wenn dies möglich ist, schaffen es mehr Frauen in Kaderpositionen und sind Erwerbs- und Familienarbeit gerechter verteilt. Es gibt Männer, die gerne Teilzeit arbeiten und bei der Hausarbeit und Kinderbetreuung mehr Verantwortung übernehmen würden. In vielen Branchen wie zum Beispiel Banken und Versicherungen ist das aber schwierig.

Sie haben die Anstellungspraxis der Verwaltung kritisiert. Es würden vor allem junge Frauen angestellt und Männer teilweise diskriminiert.

Ich beobachte dies seit einiger Zeit. Natürlich ist es sinnvoll, wenn viele Frauen in leitende Positionen kommen, aber wir sollten dabei die Männer nicht benachteiligen. Ich sehe das in unserem Institut: Junge Frauen sind extrem gefragt, werden an Podien und für Vorträge eingeladen, und sie erhalten Forschungsgelder. Männer haben das Nachsehen, obwohl sie gleich gut qualifiziert sind. Bei der Besetzung von Stellen haben Frauen ebenfalls die grösseren Chancen. In unserer Abteilung habe ich zwei hervorragende Männer, die kaum Aussicht auf eine Assistenzprofessur haben; sie sind im Moment einfach nicht gefragt. Sie werden mit grosser Wahrscheinlichkeit in die Privatwirtschaft gehen und dort mehr verdienen als ihre ehemaligen Kolleginnen. Diese Entwicklung ist problematisch, weil sie Frauen- und Männerberufe neu festschreibt. In der Verwaltung, an den Universitäten, die in Genderfragen auch politisch unter Druck sind, haben wir dann vor allem Frauen und in den Führungsetagen der Wirtschaft Männer. Ziel wäre, dass wir in der Verwaltung, an den Universitäten und in der Wirtschaft Führungspositionen mit Frauen und Männern besetzen.

Zur beruflichen Gleichstellung tragen alle bei. Welches ist der Beitrag von Unternehmen, von Frauen und von Männern?

Nochmals: Die Unternehmen sollten Frauen und Männern Teilzeitkarrieren ermöglichen. Die Frauen müssen, wenn sie Kinder haben, die ersten zwei Jahre nach der Geburt in der Arbeitswelt durchhalten. Das ist hart, ich weiss das aus eigener Erfahrung. Und die Männer sollten sich noch mehr in die Situation von Frauen einfühlen, als Vorgesetzte die Mitarbeiterinnen unterstützen, als Partner sich für Teilzeit stark machen und zuhause mitanpacken, sich bei der Kinderbetreuung und im Haushalt engagieren.

«Natürlich ist Weiterbildung sinnvoll, wenn sie gezielt erfolgt. Was aber zählt, sind Erfahrung und Kompetenzen.»
Katja Rost, Soziologie-Professorin und NZZ-Kolumnistin

Autor

  • Rolf Murbach

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