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Bewusst atmen, den Körper spüren und meditieren – für viele gehört das in die esoterische Ecke. Doch der Effekt von Achtsamkeit ist wissenschaftlich belegt. Immer mehr Firmen entdecken das Konzept für ihren Arbeitsalltag.

Vor rund vier Jahren hat eine spezielle Weiterbildung die Aufmerksamkeit von Fridolin Roth geweckt: Der Energiekonzern Axpo bietet seinen Mitarbeitenden zweitätige Mindfulness-Trainings an. In diesen Workshops werden gemeinsam Übungen durchgeführt, die besonders in Stresssituationen helfen, gelassen zu bleiben. Hauptsächlich handelt es sich um kurze Meditationssequenzen.

«Ich war sehr offen für das Thema», sagt Roth, ausgebildeter Musiker und Mathematiker und bei Axpo für erneuerbare Energien zuständig. «Zuhören und einfühlsam auf andere reagieren ist in der Musik essentiell – und auch in der Teamarbeit wichtig.» Zudem ist Roth von seiner Frau her – eine gebürtige Asiatin – mit Yoga und Meditation vertraut.

Axpo ist eines von immer zahlreicheren Unternehmen, welche die Lebensphilosophie der Achtsamkeit in ihre Firmenkultur integrieren wollen. Neben den Kursen und der Thematisierung in Führungslehrgängen bietet der Konzern seinen rund 5500 Mitarbeitenden zum Beispiel geleitete Meditationen über Mittag an, die jeweils etwa zehn Personen besuchen. In der Homeoffice-Zeit waren es jedoch bis zu 150 Personen, die  von entsprechenden Online-Sessions Gebrauch machten. So lernten sie praktische mentale Strategien zur Stressreduktion und zum Umgang mit Ungewissheiten kennen, um die Widerstandskraft im Arbeits- und Privatleben zu stärken.

«Zuhören und einfühlsam auf andere reagieren ist in der Musik essentiell – und auch in der Teamarbeit wichtig.»
Fridolin Roth

Der Blutdruck sinkt

Die Idee der Achtsamkeit ist eigentlich sehr einfach – aber trotzdem herausfordernd: Kurz zusammengefasst geht es darum, mit der Aufmerksamkeit ganz im Hier und Jetzt zu bleiben und die gegenwärtigen Empfindungen bewusst wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Das Konzept stammt aus dem Buddhismus. In westlichen Kulturen ist es in den letzten Jahren immer populärer geworden, wird aber meist losgelöst von religiösen Vorlagen praktiziert. Gerade seit Beginn der Corona-Krise suchen viele Zuflucht in der achtsamen Lebensweise. Sie wollen besser lernen, mit Ängsten umzugehen und Freude in den kleinen, alltäglichen Handlungen zu entdecken – etwa eine Tasse Tee geniessen.

Mittlerweile gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die auf gesundheitliche Vorteile hinweisen. Zum Beispiel soll der Spiegel des Stresshormons Cortisol sinken, und somit auch der Blutdruck. Das Immunsystem wird gestärkt, die Konzentrationsfähigkeit und das Gedächtnis werden besser, derweil das Risiko für Depressionen und Ängste abnimmt. Eine Doktorarbeit an der Universität Zürich konnte letztes Jahr nachweisen, dass Dankbarkeit, Wertschätzung, Liebe und Spiritualität bei Menschen nach einem zweimonatigen Training ausgeprägter waren als bei einer Kontrollgruppe.

Auch Studien im Arbeitsumfeld legen nahe, dass sich in Achtsamkeit Geübte länger konzentrieren können, kreativer sind, besser verhandeln können sowie ein positiveres Teamverhalten und eine ausgeprägte Lösungsorientierung aufzeigen.

Positive Effekte von Achtsamkeit
Mittlerweile gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die auf gesundheitliche Vorteile hinweisen. Zum Beispiel soll der Spiegel des Stresshormons Cortisol sinken, und somit auch der Blutdruck.

Atemübung an der Teamsitzung

«Achtsamkeit hilft beim Umgang mit Angst und Unsicherheit», ist Janine Cavegn, ehemalige HR-Fachfrau bei Axpo, überzeugt. Wie in vielen Unternehmen ist auch bei Axpo ein digitaler Transformationsprozess im Gang. Die Corona-Krise hat neuen Arbeitsmodellen mit ortsunabhängigeren Arbeitsplätzen und flexibleren Zeiten zusätzlich Aufwind verschafft. Einige Mitarbeitende fühlen sich von der sogenannten VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) zuweilen überfordert.

Janine Cavegn ist vor einigen Jahren in einer beruflichen Stresssituation auf das Konzept der Achtsamkeit gestossen – damals noch bei einer anderen Firma. «Ich hatte das Gefühl, es nicht mehr zu schaffen und suchte nach etwas, das mir hilft», sagt die 50-Jährige. In einem Kurs habe sie gelernt, zur Ruhe zu kommen sowie ihre Glaubenssätze zu hinterfragen und zu verändern. Danach machte sie selber eine Ausbildung zur MBSR-Trainerin (Mindfulness Based Stress Reduction) und meditiert seither regelmässig, sowohl am Morgen als auch zwischendurch bei der Arbeit gelegentlich fünf bis zehn Minuten. «Weil mir dies viel gebracht hat, möchte ich es weitergeben.»

Der Energie-Konzern hat das Achtsamkeits-Konzept bereits vor sieben Jahren eingeführt. Daran konnte Cavegn anknüpfen. Neben der Leitung der Mediationsgruppe wird ihre Lebenshaltung zum Beispiel bei der Führung ihres eigenen Teams spürbar. Am Anfang von Sitzungen zum Beispiel halten die Teilnehmenden stets einen kurzen Moment inne, spüren in sich hinein und nehmen wahr, wie es ihnen gerade geht. Auch wenn es zu einer emotionalen oder wenig konstruktiven Diskussion kommt, legt Cavegn öfters mal ein, zwei Minuten Innehalten ein, baut eine kurze Atemübung ein oder ein paar Minuten kontemplatives Gehen. «Natürlich zwingen wir niemanden zum Mitmachen», betont die Teamleiterin. «Einige verbinden Meditationen immer noch mit Esoterik.» Doch insgesamt sei die Akzeptanz stark gestiegen, beobachtet die HR-Fachfrau, auch weil das Thema in letzter Zeit in den Medien ziemlich präsent war. Diverse Mitarbeitende, darunter vor allem Führungskräfte, haben mittlerweile selber einen Zugang zu Achtsamkeit gefunden.

«Ich hatte das Gefühl, es nicht mehr zu schaffen und suchte nach etwas, das mir hilft.»
Janine Cavegn

Achtsam Kranke pflegen

Auch das Spitalzentrum Oberwallis integriert Methoden zur Achtsamkeit bereits seit einigen Jahren in den Arbeitsalltag. Rund 150 Personen aus den Bereichen Pflege und in Führungspositionen haben bereits einen MBSR-Kurs absolviert, in dem sie sich mit einem günstigen Umgang mit Stress und respektvoller Kommunikation auseinandergesetzt haben. «Wir stellen eine signifikante Verbesserung des Stressempfindens fest», sagt Pflegedirektor Kilian Ambord. Das Spital regt die Mitarbeitenden aber nicht nur zum Meditieren an, sondern bemüht sich auch auf praktischer Ebene, Stress zu reduzieren: Innert fünf Jahren werden in der Pflege 45 Stellen aufgestockt.

Auch Axpo-Mitarbeiter Fridolin Roth hat von der zweitätigen Weiterbildung profitiert. Eine Zeitlang habe er regelmässig meditiert, sagt der 42-Jährige. Hilfreich fand er auch die sogenannten Bodyscans, bei denen man im Geist durch den Körper wandert und die einzelnen Körperteile sowie den Atem bewusst wahrnimmt. In letzter Zeit habe er die Übungen aber etwas vernachlässigt, räumt der Betriebsleiter ein. Trotzdem habe er etwas Nachwirkendes aus dem Kurs mitgenommen: «Es ist gut, die Methode zu kennen, um in Stresssituationen etwas zur Hand zu haben.»

«Es ist gut, die Methode zu kennen, um in Stresssituationen etwas zur Hand zu haben.»
Fridolin Roth

Achtsamkeit üben

Wer grundlegende Veränderungen anstrebt, sollte sich in einem Kurs von einer Trainerin oder einem Trainer anleiten lassen und mindestens zwei Monate täglich üben. Am besten erforscht ist der MBSR-Ansatz (Mindfulness Based Stress Reduction). Erste Erfahrungen mit Achtsamkeit kann man aber auch mit einfachen, im Alltag integrierten Übungen machen:

Beim Treppe steigen

Während man eine Treppe hochgeht, versuchen an nichts Anderes zu denken. Nur wahrnehmen, welche Empfindungen spürbar sind. Etwa, wie der Fuss auf dem Tritt aufsetzt, sich der Oberschenkelmuskel anspannt, während sich das Knie langsam durchstreckt.

Beim Essen

Eine Weinbeere, einen Apfel oder eine Mahlzeit geniessen und sich nur auf diesen Vorgang konzentrieren. Das Nahrungsmittel zuerst betrachten, daran riechen und dann die Beschaffenheit mit der Zunge wahrnehmen. Langsam kauen und dabei auf die Geräusche und das Geschmacksbouquet achten. Wahrnehmen, wie der Bissen die Speiseröhre hinunterrutscht und wie er sich im Magen anfühlt.

Apps für das Smartphone

Sie bieten Unterstützung. Die App 7mind zum Beispiel leitet Anfänger in kurzen Übungen an. Sie stellt Meditationen zur Verfügung, die etwa das Einschlafen erleichtern, in der Partnerschaft oder Elternrolle dienlich sind, das Selbstvertrauen stärken, oder mit Ängsten in turbulenten Zeiten umzugehen helfen. (Jahresabo: 59 Franken). Eine bekannte und bewährte App in englischer Sprache ist Haedspace. (Jahresabo: 95 Franken)

Veröffentlicht am: 9.10.2020

Aktualisiert am 9.6.2022

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