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Gesundheit – sie war 2022 ein Dauerbrenner und noch immer wird 2047 heftig diskutiert, was uns gesund hält und welche Gesundheitskosten sich eine Gesellschaft leisten kann. Viele von uns sind Mitglied in einem Health Club, dessen Geräte rund um die Uhr unsere Gesundheitswerte überprüfen: smarte Matratzen, smarte Ringe, smarte Spiegel. Die Daten verhindern zwar nicht, dass wir krank werden, aber sie helfen, Krankheiten weit früher zu erkennen.

[Post aus der Zukunft von Dr. Joël Luc Cachelin]

Gesundheit beschäftigt fast alle von uns. Nicht nur sind wir durch den demographischen Wandel eine alte Gesellschaft geworden. Sondern ist das Gesundheitswesen mit Abstand die Branche, die am meisten Menschen beschäftigt. Auch ich selbst arbeite gerade an einer Studie zur Gesundheit. Mein Auftraggeber will wissen, wie die Humanmedizin noch besser von der Tiermedizin lernen kann. Die Zoonosen der letzten Jahre brachten eine starke Annäherung der beiden Fächer. Im Zuge des Urban Farmings sind viele von uns stolze Besitzer:innen von Hühnern und Schafen geworden und nach wie vor sind Haustiere sehr beliebt. Die Urinwerte der Stubentiger analysiert smartes Katzenstreu. Ihre Wunden und psychische Leiden lässt man per Videotelefonie untersuchen. Auch bei uns Menschen sind tele- und holomedizinische Angebote alltäglich geworden.

Mehr Daten oder mehr Ferien?

Auch für Arbeitgeber:innen ist Gesundheit ein wichtiges Thema. Wie im letzten Brief beschrieben, arbeiten wir bis ins hohe Alter. Seit 2022 hat sich das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) aber in zwei Richtungen entwickelt. Die einen setzen voll auf Technologie und datenbasierte Früherkennung von Krankheiten. Ihren Mitarbeitenden bieten sie entsprechende Apps, Wearables und Chatbots an. Wenn die Algorithmen eine Veränderung im Gesundheitszustand bemerken, fragen sie freundlich nach, was los ist. Beispielsweise bemerken die Algorithmen, wenn jemand immer länger braucht, um Nachrichten zu beantworten, wenn der Bewegungsradius schrumpft oder sich die Pupillen auffällig bewegen. Natürlich sind die Automatismen nicht bei allen Mitarbeitenden beliebt. Denn obwohl Datenschutz versprochen wird, gab es Skandale. Arbeitgeber:innen verstiessen gegen das Versprechen die Privatsphäre zu schützen und kündeten ihren ungesunden Mitarbeitenden.

Dem Gesundheitsmanagement von anderen Unternehmen ist es weniger wichtig, die Zukunft auf Basis von Daten vorherzusehen. Sie sammeln keine medizinischen Verhaltensdaten und überlassen es Mitarbeitenden zu bestimmen, welche Daten sie freigeben. Ihre finanziellen und zeitlichen Ressourcen investieren sie vielmehr in die Prävention. Da es in unseren Büros kaum noch körperliche Arbeit gibt, liegt der Schwerpunkt des betrieblichen Gesundheitsmanagements ganz auf dem Erkennen von Bewegungsmangel und psychischer Belastungen. Unternehmen organisieren für die Mitarbeitenden Yogakurse, Waldbäder, Massagen und Kochkurse. Viele Teams setzen auf Mikro-Meditationen. Erholung spielt eine wichtige Rolle. Fortschrittliche Unternehmen haben die Anzahl der Ferienwochen auf acht pro Jahr erhöht und die Wochenarbeitszeit radikal gekürzt. Zudem werden die Mitarbeitenden regelmässig animiert, erholsame und inspirierende Mittagspausen zu machen. In Offline-Meetings verzichten Mitarbeitende bewusst auf ihre intelligenten Brillen und Holodecks.

«In Offline-Meetings verzichten Mitarbeitende bewusst auf ihre intelligenten Brillen und Holodecks.»
Dr. Joël Luc Cachelin über die Meetingkultur 2047:

Chief Health Officer entgiften die Arbeitswelt

Arbeitgeber:innen haben gemerkt, dass Freiräume, Selbstwirksamkeit, Mitgestaltungsmöglichkeiten und Sinnstiftung die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden verbessern. Dazu mussten sie ihr Verständnis von Arbeit und von der Rolle von Mitarbeitenden radikal verändern. Statt dem Glauben nachzuhängen, Mitarbeitende seien faul und bräuchten Kontrolle, verstehen sich Führungskräfte als Motivatoren und Sinntrainer, die die Eigeninitiative der Mitarbeitenden fördern. Die (Vor-)Sorge für die psychische Gesundheit verhindert nicht nur lange Krankheitsausfälle. Weil Menschen besser mit ihren Gefühlen umgehen können, steigt auch die wahrgenommene Qualität der Arbeitsatmosphäre. Entsprechend verlagerte sich die Arbeit der Gesundheitsmanager:innen weg vom Design von ergonomischen Möbeln hin zur Gestaltung von neuen Jobprofilen. In den 2020er-Jahren verlangte dies, mutig für die Digitalisierung von Routineaufgaben einzutreten. Jobs an Fliessbändern oder stumpfe Routinen sollten verschwinden und Raum für Gestaltungsräume und Abwechslung schaffen. Kassierer:innen gibt es heute keine mehr, dafür Menü-Berater:innen und Fachpersonen für vegane und klimaschonende Ernährung.

Ich erinnere mich, man sprach in den 2020er Jahren viel über toxische Arbeitswelten. Es war ein Sammelbegriff, um all jene Elemente des Arbeitens zusammenzufassen, die Menschen daran hinderten, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften einbringen zu können. Weil die Unternehmen toxisch waren, machten sie Menschen krank. Sie verhinderten, dass wir bei der Arbeit wir selbst sein können, unsere Gefühle und Unsicherheiten zeigen und unsere Kreativität ausleben dürfen. Die giftigen Elemente umfassten das Mobbing gegen Homosexuelle, das passiv-aggressive Schlechtmachen von Ideen, ineffiziente Meetings, die Beförderung von Konkurrenz, die der dominanten wirtschaftlichen Logik entsprachen und das Beharren auf Kleiderkonventionen. Giftig waren die Arbeitswelten auch, weil sie gegen die Logik der Chronobiologie verstiessen, also gegen die Synchronisierung von genbasierten Bio- und Arbeitsrhythmen.

Keine Verherrlichung der Teamarbeit mehr

Zwar sprach man 2022 über das mobil-flexible Arbeiten – und trotzdem setzte man Sitzungen um 8 Uhr morgens an. Dass dies Nachtmenschen krank macht und auch ein gesundes Familienleben verhindert, war offenbar nicht allen Managern bewusst. Dieses Problem ist heute insofern gelöst, dass die Kernarbeitszeit von Montag bis Donnerstag auf 10 bis 15 Uhr beschränkt wurde. Ausserhalb dieser Zeit darf niemand mehr verpflichtet werden, vor Ort zu arbeiten. Vielleicht denkt ihr, dass das System zusammengebrochen sei oder wir in bitterer Armut leben, aber das ist nicht der Fall. Wir haben gelernt uns zu organisieren, indem wir mehr über unsere Bedürfnisse sprechen. Vor allem aber haben wir aufgehört Dinge zu tun, die niemandem etwas bringen. Wir haben sämtliche Administration digitalisiert und wir haben die Verherrlichung der Teamarbeit beendet. Wir haben wieder gelernt. Expertinnen und Experten zu vertrauen, anstatt für jedes Problem einen partizipativen Prozess einzuberufen. Wir haben entdeckt, dass oftmals bessere Ideen entstehen, wenn sich eine Person voll und ganz einem Problem widmen kann, als fünf nur halbherzig.

Veröffentlicht am 16.6.2022

«Giftig waren die Arbeitswelten auch, weil sie gegen die Logik der Chronobiologie verstiessen, also gegen die Synchronisierung von genbasierten Bio- und Arbeitsrhythmen.»
Dr. Joël Luc Cachelin über toxische Arbeitswelten:

Gast-Autor

  • Dr. Joël Luc Cachelin

    Gründer Wissensfabrik

Zur Person

  1. Dr. Joël Luc Cachelin (1981) ist ein Schweizer Futurist. Vor dreizehn Jahren gründete er die Wissensfabrik, um Unternehmen in Zukunftsfragen zu inspirieren, zu begleiten und zu beraten. Sein Wissen bringt er in Expertengremien ein, darunter in die Beiräte des Besuchszentrums der Schweizerischen Nationalbank und Swissmedic 4.0 sowie in die Expertenkommission zum Grundversorgungsauftrag der Post. Grundlage seiner Arbeit bildet ein Wirtschaftsstudium an der Universität St.Gallen. 2021 schloss er sein Zweitstudium mit einem Master in Geschichte an der Universität Luzern ab.

    Im Zentrum seiner Arbeit steht das Interesse für Veränderungen. Dabei beobachtet er einerseits wie die verschiedenen Transformationsprozesse unsere Vorstellungen von Zukunft, Innovation und Fortschritt prägen. Anderseits erkundet er, welche alten Zukünfte der Vergangenheit wieder relevant werden könnten. In seinen Zeitreisen hält er sich zwischen den Jahren 1850 und 2050 auf.

  2. Die Wissensfarbik ist ein Thinktank für die digitale Gesellschaft. Sie bietet Studien, Vorträge, Beratung und die Entwicklung von Managementinstrumenten an. In der Wissensfabrik entstehen Bücher. Zuletzt: «Antikörper - Innovation neu denken» (Stämpfli, 2021).

Eine Kolumne aus der Zukunft

Im Auftrag des Kaufmännischen Verbands hat sich Dr. Joël Luc Cachelin mit unseren Fokus-Themen Sinn-Ökonomie, New Work und Gesundheit, Future Skills und Gleichstellung auseinandergesetzt. Er wagt dabei einen Blick aus dem Jahr 2047 und bricht unsere traditionellen Denkmuster auf. Seine Kolumne [Post aus der Zukunft] wird viermal im Laufe des Jahres publiziert.

Für den Kaufmännischen Verband steht fest: Egal was die Zukunft bringt, wir stehen unseren Mitgliedern sowie Arbeitnehmer:innen im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Bereich und im Detailhandel  tatkräftig zur Seite und begleiten sie durch die Zeitreise.

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