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Vernetztes Wissen abfragen und digital prüfen

Ab Herbst 2023 starten alle neuen KV-Lernenden ihre Lehre nach der neuen Bildungsreform. Im Zentrum steht dabei die Handlungskompetenzorientierung. Zudem wirkt sich die Digitalisierung auf die Art und Weise zu Lehren und zu Prüfen aus. Was ändert sich, und wie wird künftig digital unterrichtet und geprüft?

Im Zuge der neuen Bildungsverordnung wird auch das Qualifikationsverfahren (QV) neu strukturiert. Das bedeutet, dass sich sowohl Inhalt wie Form der KV-Abschlussprüfungen ändern werden. 

Inhalt: Fokus auf Handlungskompetenzorientierung

Andrea Rosser, Leiterin der Geschäftsstelle Qualifikationsverfahren beim Kaufmännischen Verband Schweiz, erklärt: «Neu möchte man – etwas überspitzt gesagt – alles Wissen in einer Aufgabe abfragen und gleichzeitig zum Beispiel vernetztes Denken und die Sozialkompetenz prüfen.» 

Der Kaufmännische Verband hat eine erste Musterprüfung erstellen lassen, damit sich die Schulen ein Bild davon machen können, wie Inhalte neu abgefragt und geprüft werden sollen. Darin steht das Abfragen der Handlungskompetenzen im Vordergrund.

Basierend auf dieser Grundlage entwickelt der Verband, gemeinsam mit den Trägerschaften, den Kantonen und den Schulen, die Organisationsstruktur und Umsetzung des Qualifikationsverfahrens weiter. 

  1. Ein Beispiel für eine solche Prüfungsaufgabe könnte sein: Eine Lernende muss für die Teamleiterin Sitzungen organisieren. Dafür muss sie eine Doodle-Umfrage machen, um passende Termine zu finden. Auf die deutsche Anfrage schreibt jemand auf Französisch zurück und hat ein besonderes Anliegen. «Mit einer solchen Aufgabe kann man die Fremdsprache prüfen, das Sprachniveau und die Ausdrucksweise in Deutsch, den Umgang mit Kundinnen und Kunden, die inhaltliche Recherche und die Anwendung von IT-Tools», fasst Andrea Rosser zusammen. 

2023 noch viel Papier verschickt 

Neben dem Prüfen von Handlungskompetenzen steht die Frage nach einer digitalisierten Durchführung künftiger QV im Fokus – denn auch das QV muss mit dem Wandel der Zeit gehen. Eine mögliche Umsetzung müsse sorgfältig durchdacht sein und werde nicht von heute auf morgen passieren, führt Andrea Rosser aus. «Für die Abschlussprüfungen im Jahr 2023 hingegen haben wir noch 3,2 Tonnen Papier verschickt. Das möchten wir ändern, da es nicht ökologisch ist und nicht mehr der heutigen Arbeitswelt von kaufmännischen Angestellten entspricht», sagt sie.

Erste Erfahrungen im Detailhandel

Die Lernenden im Detailhandel haben bereits erste Erfahrungen damit gemacht, was es bedeutet, wenn handlungskompetenzorientiert und digital geprüft wird – denn dort startete die Reform bereits im Herbst 2022.

Luca Pession, Leiter der kaufmännischen Berufsfachschule Fribourg, zeigt auf: «Die Lehrmedien im Detailhandel sind inzwischen komplett digital. Der Zugriff während und ausserhalb des Unterrichts erfolgt mit dem eigenen Gerät, und auch die Prüfungen können am Laptop geschrieben werden.»

BYOD im Kanton Fribourg 

«Bring your own device» oder «BYOD» sei im Kanton Fribourg im kaufmännischen Bereich überall erlaubt, so Pession weiter. Dabei gehe es nicht nur darum, dass die Lernenden die Unterlagen digital konsultieren können. Sondern auch darum, mit bestimmten Tools die Zusammenarbeit zu fördern oder mit Lernspielen Wissen zu vermitteln.

Papier oder Laptop? Die Lehrpersonen bestimmen 

In der KV-Lehre seien die Lernmedien bisher teilweise digitalisiert, ergänzt Pession. «Wie und in welchem Ausmass jedoch heute bereits digital geprüft wird, ist ganz unterschiedlich und wird von den Lehrpersonen selber bestimmt. Die einen bestehen darauf, dass Aufgaben komplett auf Papier gelöst werden. Andere wiederum gestalten ihre Prüfungen so, dass die Lernenden sie am Laptop schreiben können und geben auch Zugriff aufs Internet.»

Handlungskompetenzorientierung hat Priorität 

Ob und in welchem Ausmass digital geprüft wird, geben die Schulen nicht vor. Vorgegeben wird hingegen, dass die Lehrpersonen Prüfungen künftig so gestalten müssen, dass sie handlungskompetenzorientiert abfragen können. Wissen kann man googeln, und Informationen findet man im Internet – doch wie man in einem vernetzten Arbeitsumfeld agiert, unternehmerische Arbeitsprozesse koordiniert, mit Kunden und Lieferanten kommuniziert oder Tools und Technologien sinnvoll einsetzt, das muss künftig anders abgefragt werden.

Aufgabenstellung im Detailhandel 

Eine Aufgabenstellung im Detailhandel könnte sein: Eine Kundin beschwert sich via E-Mail über ein Produkt. Wie geht man vor, was für Informationen muss man einholen und wie lautet ein Vorgehensvorschlag inklusive Antwort an die Kundin? 

Eine solche Aufgabe lässt sich am besten digital lösen. Im Detailhandel wird dies bereits gemacht, denn dadurch bereiten sich die Lernenden auf die Qualifikationsverfahren nach der neuen Reform im Jahr 2025 vor.

Critical Incidents, Videoanalysen und Kundengespräche 

Auch für das KV werden die die Prüfungen inhaltlich komplett überarbeitet. Künftig werden unter anderem «Critical Incidents», also schwierige Situationen, abgebildet und geprüft. Oder die Lernenden machen eine Videoanalyse von einem Kundengespräch und müssen Fehler identifizieren und korrigieren. Der Fokus bleibt dabei immer auf die Handlung bezogen. Bei den mündlichen Prüfungen kann man Arbeitsgespräche und Situationen simulieren. Früher, beziehungsweise im «alten» System, hätten die Lernenden schriftlich Fragen zu einer Situation beantworten und einen Vorgang niederschreiben müssen. 

Die Realität abbilden 

«Wir müssen beginnen, die Realität abzubilden. In ihrem Arbeitsalltag haben Lernende Zugriff auf das Internet, auf Übersetzungstools und auf künstliche Intelligenz wie Chatbots.» Dies wirke sich auf das Lehren und Prüfen aus und erfordere Lösungen, die zumindest näher an der Arbeitssituation seien, betont Luca Pession.

Vom Wissensvermittler zum Wissensbegleiter 

Die fortschreitende Digitalisierung wirkt sich auch auf die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer aus: «Lehrpersonen sind neu keine Wissensvermittler mehr, sondern Wissensbegleiter», sagt Luca Pession. Das bedeute ein Umdenken und erfordere neue Skills, die durch ständige Weiterbildungen trainiert werden müssen.

Digital mit BYOD 

In der höheren Berufsbildung geht der Trend ganz klar Richtung onlinebasierte Prüfungen mit BYOD. Die höhere Berufsbildung befindet sich in einem ständigen Reformprozess – denn jede Trägerschaft kann für sich entscheiden, wann sie eine Reform startet. In den neuen Prüfungsreformen lässt man idealerweise offen, ob schriftlich auf Papier oder digital geprüft wird, weiss Dalya Abo El Nor, Prüfungsleiterin und Mitglied der Geschäftsleitung von examen.ch.  

«Wir müssen beginnen, die Realität abzubilden.»
Luca Pession, Leiter der kaufmännischen Berufsfachschule Fribourg
  1. Examen.ch ist eine Dienstleistungsorganisation, die im Bereich der höheren Berufsbildung für Kunden eidgenössische Prüfungen durchführt. Dabei übernimmt examen.ch alles von der Planung über die Ausschreibung, Vorbereitung, Durchführung bis zur Nachbereitung – von der Planung über die Prüfungsausschreibung bis zur Diplomfeier. 

«Bei den schriftlichen Prüfungen sehen wir noch die ganze Bandbreite – von Papierprüfungen, bei denen die ganze Prüfung von Hand geschrieben wird, über einen Mix zwischen Papier und online, bis hin zu vollständigen Onlineprüfungen in einem Tool», sagt Dalya Abo El Nor.

Berufs- und höhere Fachprüfungen mit BYOD 

Im März 2023 wurde die Prüfung zu «Expertin/Experte Rechnungslegung und Controlling» digital und mittels BYOD durchgeführt. Auch die erste Prüfung des neuen Lehrgangs «Digital Collaboration Specialist» wurde digital mit BYOD gemacht, und dasselbe steht bei den Weiterbildungen für die HR-Fachleute – einer grossen Prüfung mit über 1200 Kandidatinnen und Kandidaten – und den Executive Assistants an.

Grosse Fortschritte bei IT-Sicherheit und Überprüfbarkeit 

Im Bereich BYOD sei in den letzten zwei, drei Jahren viel passiert, sagt Dalya Abo El Nor. Für die Überprüfbarkeit gibt es Monitoringtools, mit denen man sicherstellen kann, dass sich die Prüfungskandidatinnen und -kandidaten nicht untereinander austauschen oder Kontakt zu Dritten aufnehmen können.

«Wir verwenden zum Beispiel sogenannte Prüfungssticks, die als USB beim eigenen Laptop eingesteckt werden. Dann loggen sich die Kandidatinnen und Kandidaten in einer geschützten Umgebung ein, in der dann einzelne Applikationen wie Mailprogramme oder WhatsApp gesperrt werden und andere zur Verfügung gestellt werden können», führt Dalya Abo El Nor aus.

Digital: Support-Aufwand steigt 

Nicht zukunftsträchtig seien IT-Plätze an Ausbildungsinstituten. Diese würden immer stärker abgebaut, da der Trend ganz klar hin zu BYOD gehe, betont Dalya Abo El Nor. Nicht unterschätzen dürfe man den zusätzlichen Support-Aufwand, wenn digital mittels BYOD geprüft werde, sagt sie. «Wenn man Tools und eine geschützte Prüfungsumgebung vorgibt, braucht es vonseiten der Prüfungsorganisation oder Trägerschaft einen höheren Unterstützungsaufwand.» Zudem birgt Technik immer ein gewisses Risiko. Es kann sein, dass der Laptop nicht funktioniert, es einen Stromunterbruch gibt oder etwas in der geschützten Umgebung nicht geht. Deshalb braucht es vor und während den Prüfungen zusätzliche personelle und fachliche Ressourcen für den Support. 

Mündliche Prüfungen mit digitalen Tools 

Bei mündlichen Prüfungen mit Vorbereitungszeit spielen digitale Tools oder Programme bereits heute eine wichtige Rolle. Hier gehe es primär um den Einsatz von geeigneten Hilfsmitteln, sagt Dalya Abo El Nor: «Bei mündlichen Prüfungen gibt es normalerweise eine Vorbereitungszeit, während der Kandidatinnen und Kandidaten einen Case lösen und diesen dann präsentieren müssen. Dafür brauchen sie zum Beispiel Power Point, auch hier angelehnt an die Praxis. Bei gewissen Prüfungen gilt «open net» und die Internetrecherche ist erlaubt, bei anderen nicht. Bei wiederum anderen mündlichen Prüfungen braucht es keine Hilfsmittel, weil diese etwa als Rollenspiel durchgeführt werden – etwa eine Kundenbeschwerde oder ein schwieriges Gespräch.»

Die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz 

Sowohl in der Grundbildung wie auch in der höheren Berufsbildung ist künstliche Intelligenz (KI) ein grosses Thema.  

«Wir müssen uns überlegen: Wie können wir solche Tools sinnvoll einbinden, ohne dass Prüfungen abgewertet werden, indem plötzlich die Antworten von ChatGPT geschrieben werden können?», zeigt Dalya Abo El Nor auf.

Das führt zu weiteren Überlegungen: Wie muss man die Aufgabenstellungen überarbeiten, damit KI integriert werden kann? Welche Kompetenzen müssen geprüft werden? Und wie stellt man sicher, dass die Qualität der Ausbildung und des Berufs nicht leidet?

Mit diesen Fragen beschäftigen sich aktuell die Trägerschaften. Sicher ist: Wenn Hilfsmittel wie das Internet und KI in der Praxis zur Verfügung stehen, müssen sie früher oder später auch in der Prüfungssituation verwendet werden können. 

«Es wird alles schnelllebiger. Wir müssen die Berufsbilder ständig überarbeiten und dranbleiben, damit auch Weiterbildung und Prüfungen der Praxis entsprechen», sagt Dalya Abo El Nor. 

Prüfungen werden denn auch in Zukunft ein wichtiges Instrument sein, um in der Grundbildung und in der höheren Berufsbildung Kompetenzen und Wissen abzufragen und sicherzustellen, dass Kandidatinnen und Kandidaten fit sind für den Arbeitsmarkt – trotz fortschreitender Digitalisierung und einem sich ständig wandelndem Berufs- und Arbeitsumfeld.

Veröffentlicht am 19.7.2023

«Wir müssen die Berufsbilder ständig überarbeiten und dranbleiben, damit auch Weiterbildung und Prüfungen der Praxis entsprechen.»
Dalya Abo El Nor, Prüfungsleiterin und Mitglied der Geschäftsleitung von examen.ch

Autor:in

  • Sibylle Zumstein

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