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Faire Chancen in der Berufswahl werden durch Entscheide der Behörden und Geschäftspraktiken von privaten Testanbietern untergraben

Mit der Einführung der sprachregionalen Lehrpläne (LP 21, Plan d'études Romand, Piano di Studio) wurde in der Schweiz ein konsolidierter Berufswahlfahrplan verabschiedet. Die Schülerinnen und Schüler sollen während der drei Jahre im Zyklus 3 die nötigen Kompetenzen erwerben, um ihre Berufslaufbahn langfristig selbstständig meistern zu können. Der Entscheid, offene Lehrstellen früher auszuschreiben sowie die Pra-xis des «Active Sourcing» der privaten Lehrstellenvermittler und Testanbieter, die für Schulabgängerinnen und Schulabgänger eingesetzt werden, untergraben diesen Lernprozess, gefährden die Chancengerechtig-keit und erhöhen zu einem ungünstigen Zeitpunkt den Druck auf die Schülerinnen und Schüler.

09.02.2021

Der Einstieg ins Berufsleben ist anspruchsvoll. Schülerinnen und Schüler haben zu Beginn des Zyklus 3 oft noch keine Vorstellung von einer möglichen Berufswahl. Im Vergleich zu früher sind sie auch jünger. Mit der Einführung der Lehrpläne (LP21, PER, PdS) haben sich alle am Berufswahlprozess beteiligten Parteien auf einen Fahrplan geeinigt. Diesem sind Kompetenzen hinterlegt, welche die Schülerinnen und Schüler während diesem Prozess erwerben sollen. Alle am Berufswahlprozess Beteiligten arbeiten mit bewährten Instrumenten und Arbeitsmitteln, um den Jugendlichen einen guten Berufswahlentscheid zu ermöglichen. Dazu gehört auch die intensive Auseinandersetzung mit den Anforderungen der verschiedenen Berufsausbildungen und das Kennenlernen der Berufe durch die Schnupperlehren in Ausbildungsbetrieben.

Vorverschiebung untergräbt Berufswahlfahrplan

Mit der Vorverschiebung der Lehrstellenausschreibung wird der Berufswahlfahrplan untergraben. Es gibt schon länger Lehrbetriebe, die sich nicht mehr an das «Fairplay bei der Lehrstellenvergabe» halten und die Lehrstellen bereits Ende des zweiten Schuljahres im Zyklus 3 zusichern. Die Berufsbildungsämter erkennen zwar abgeschlossene Lehrverträge erst ab dem 1. November an, «Vorverträge» werden aber bereits früher abgeschlossen.

Die SBBK hat nun den Entscheid gefällt, die Lehrstellenausschreibung auf den März des zweiten Jahres im Zyklus 3 vorzuziehen. Bisher wurde die offizielle Lehrstellenausschreibung jeweils am 1. August des letzten Schuljahres im Zyklus 3 gestartet. Lehrpersonen unterstützen die ihnen anvertrauten Jugendlichen im Berufswahlprozess gerne und mit viel Einsatz. Mit dieser Vorverschiebung entsteht nun aber ein impliziter Anspruch, diese Kompetenzen bereits ein halbes Jahr früher erworben beziehungsweise vermittelt haben zu müssen.

Schnupperlehren im zweiten Schuljahr dienen laut aktuellem Berufswahlfahrplan der Berufsfindung und nicht der Bewerbung für eine Lehrstelle. Da diese nun zum Zeitpunkt der Schnupperlehren aber bereits publiziert sind, wird der Druck auf die Schülerinnen und Schüler steigen, sich während dem Schnuppern eine Lehrstelle zu sichern. Damit gerät der gesamte Berufswahlprozess zeitlich unter Druck und der für die spätere Wahl und ein erfolgreiches Berufsleben enorm wichtige Selbstfindungsprozess wird verkürzt und verfälscht.

Gefährdung des Berufsfindungsprozesses

Durch das aggressive Marketing der privaten Lehrstellenvermittler sind Jugendliche und ihre Eltern versucht, einen schnellen Entscheid zu fällen und den vermeintlich grossen Lohn und eine gesicherte Lehrstelle höher zu gewichten als das Lernen in der Schule. Zudem ist der Prozess der Selbstfindung sowie der Interessen- und Motivationsklärung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Die Folge ist eine Demotivation in den ersten Monaten der Ausbildung, und damit eine Zunahme von Lehrvertragsänderungen und -abbrüchen. Dies ist für alle Beteiligten mit sehr grossem Aufwand verbunden und bedeutet für die Jugendlichen einen Verlust an Ausbildungszeit sowie eine mühsame, frustrierende Wiederholung des Berufsfindungsprozesses.

Wichtige Kompetenzen nicht berücksichtigt

Parallel dazu hat sich in den letzten Jahren ein Business rund um das Erstellen von Bewerbungen und die verschiedenen Eignungstests für Berufslehren entwickelt. Diese privaten Unternehmen bieten entweder eine (teilweise) kostenpflichtige Unterstützung der Jugendlichen bei der Bewerbung an oder führen für Lehrbetriebe sogenannte «Eignungstests» durch. Diese Eignungstests dienen den Ausbildungsbetrieben immer öfter als alleinige Grundlage zur Einschätzung, ob die jungen Bewerbenden für den angestrebten Beruf geeignet sind oder nicht. Rund um diese Eignungstests ist in der Folge eine grosse «Teaching to the Test»-Industrie herangewachsen. Bis zu 2000 Franken kann man für eine optimale Testvorbereitung ausgeben. Die Aussagekraft dieser privaten Tests muss kritisch in Frage gestellt werden.

Wichtige überfachliche Kompetenzen wie Selbstkompetenz und soziale Kompetenzen werden von den Eignungstests nicht erfasst. Gerade die Selbstkompetenz und die soziale Kompetenz werden aber von vielen Ausbildungsbetrieben für den Erfolg in der Ausbildung als mindestens so wichtig eingeschätzt wie fachliche Kompetenzen. Daher ist auch das gegenseitige Kennenlernen in den Schnupperlehren ein wichtiges Element für einen erfolgreichen Berufswahlprozess. Eine ganzheitliche und langfristige Beurteilung der Jugendlichen erfordert die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Lehrpersonen mit den am Berufswahlprozess Beteiligten, wie den Eltern oder Erziehungsberechtigten, der Berufsberatung und den Lehrlingsverantwortlichen in den Ausbildungsbetrieben.

Profitmacherei mit sensiblen Daten

Die privaten Testanbieter haben nun weitere Möglichkeiten entdeckt, am Berufswahlprozess der Jugendlichen Geld zu verdienen. Einerseits bieten sie den Lehrbetrieben gegen Entgelt das «Active Sourcing» an. Wenn also ein Lehrbetrieb für die Bewerbung einen Eignungstest verlangt und die Schülerinnen und Schüler dabei gut abschliessen, bekommen zahlende Unternehmen deren Kontaktdaten und können die Jugendlichen anwerben (und/oder abwerben). Private Testanbieter betreiben mit den Daten der Schülerinnen und Schüler auf ihren Plattformen ein Headhunting für die Lehrbetriebe und teilweise verknüpfen sie sogar noch die durch die Eignungstests gewonnenen Daten damit. Dieses neue Geschäftsfeld schafft Chancenungerechtigkeit in höchstem Masse. Zudem werden die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler dem Erlernen eines selbstständigen Bewerbungsprozesses beraubt – eine Erfahrung und Kompetenz, die sie für ihre spätere Berufslaufbahn brauchen werden. Um eine möglichst grosse Chancengerechtigkeit gewährleisten zu können, ist es deshalb wichtig, dass diesen diskriminierenden Praktiken Einhalt geboten wird.

Forderungen für weniger Selektionsdruck

Der LCH und der SER fordern zusammen mit «profunda-suisse» und dem Kaufmännischen Verband Schweiz die Schweizer Berufsbildungskonferenz SBBK und die Tripartite Berufsbildungskonferenz TBBK auf, zu veranlassen,

  1. dass der Termin für die Ausschreibung der Lehrstellen mit dem Berufswahlfahrplan des LP 21 übereinstimmt und somit die Ausschreibung der Lehrstellen frühestens ein Jahr vor Lehrbeginn stattfindet (1. August des dem Lehrbeginn vorangehenden Jahres).
  2. dass die Ausbildungsbetriebe den Jugendlichen im Berufswahlprozess Schnupperlehren ohne Selektionsdruck ermöglichen.
  3. dass «Active Sourcing» durch private Lehrstellenvermittler und Testanbieter bei den Jugendlichen im Berufswahlprozess verboten wird.
  4. dass das Schweizerische Dienstleistungszentrum für Berufsbildung und Berufsberatung SDBB beauftragt wird, eine adaptive und attraktive Plattform für den Bewerbungsprozess sowie die Schnupperlehren und Lehrstellenfindung zu schaffen.
  5. dass das Schweizerische Dienstleistungszentrum für Berufsbildung und Berufsberatung SDBB beauftragt wird, keine Daten an private Firmen weiterzugeben, um auf Kosten lehrstellensuchender Jugendlicher und deren Eltern oder Erziehungsberechtigten lukrative Geschäftsmodelle umzusetzen.
  6. dass der Datenschutz eingehalten und eine grösstmögliche Chancengerechtigkeit an dieser Nahtstelle gewährleistet wird.

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