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Einsamkeit schadet der Gesundheit

Einsamkeit breitet sich epidemisch aus. Ältere Menschen und zunehmend Jugendliche sind davon betroffen.

In der Schweiz fühlt sich jeder Dritte einsam, und fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen erlebt manchmal oder häufig Einsamkeit. Es ist belegt, dass Einsamkeit ein grosser Risikofaktor für die körperliche und psychische Gesundheit ist. «Chronisches Einsamkeitserleben erhöht den Stresspegel und kann sowohl zu Depressionen, Angsterkrankungen, nachlassender Hirnleistung als auch zu kardiovaskulären Erkrankungen, Schwächung des Immunsystems, Entzündungen und Krebs führen. In Studien konnte man zeigen, ganz plakativ ausgedrückt, dass chronisches Einsamkeitserleben so gesundheitsschädlich ist wie 15 Zigaretten am Tag», sagt Katrin Merz, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Privatklinik Hohenegg.

Die Leiterin des Schwerpunktes Alterspsychotherapie ist in ihrem beruflichen Alltag stark mit der Thematik konfrontiert. «Viele ältere Menschen empfinden Einsamkeit, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie fühlen sich von der Welt abgeschnitten, auch weil sie aufgrund von Gebrechlichkeit nicht mehr so mobil sind, sozial isolierte und weil ihnen nahestehende Menschen mit zunehmendem Alter sterben».

Ministerium für Einsamkeit

Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, beeinträchtigt Betroffene massiv und führt zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten. In England hat man dies erkannt und gibt mit einem Ministerium für Einsamkeit Gegensteuer. In den Niederlanden bestehen mehrere Initiativen, die Einsamkeit bekämpfen. Und auch in der Schweiz haben sich verschiedene Akteure den Themen Einsamkeit und soziale Isolation angenommen: vor allem Vereine und kleinere Institutionen, wie zum Beispiel das Zürcher Start-up «Rent a Rentner». Mehrgenerationen-Projekte, Alterswohngemeinschaften und einige politische Initiativen befassen sich ebenfalls mit der Thematik, Städte publizieren Leitfäden gegen soziale Isolation.

Für Katrin Merz sind solche Initiativen «absolut notwendig». Sie plädiert dafür, dass Einsamkeit enttabuisiert und in der Gesellschaft breit diskutiert wird. «Viele Menschen schämen sich oft für ihr Einsamkeitserleben und haben Mühe, darüber zu reden. Dabei wäre gerade dies sehr wichtig. Sie müssen erfahren, dass sie mit ihrem Einsamkeitserleben nicht allein sind.»

Vernetzung ist wichtig

Vernetzungsangebote hält Katrin Merz für hilfreich: Besuchsdienste, Treffpunkte, Austauschgruppen. «Auch wir in der Hohenegg schauen während des stationären Aufenthaltes, welche Vernetzungsangebote wir für die Zeit nach dem Austritt organisieren können».

Kathrin Merz beobachtet, dass Einsamkeit nicht nur ältere Menschen, sondern zunehmend auch jüngere betrifft. Studien belegen das ebenfalls. «Wir haben immer mehr Menschen unter dreissig bei uns, mehr als das früher der Fall war.» Ein Grund dafür liegt wohl in der Pandemie. Junge Frauen und Männer litten besonders unter den sozialen Einschränkungen während der Krise, so die Therapeutin.

Wie kann Betroffenen geholfen werden? Begegnungen seien wichtig, im «normalen Alltag», aber auch im therapeutischen Kontext. «Schon der Eintritt in die Klinik vermag Einsamkeitserleben zu lindern», sagt die Ärztin. «Gerade Patientinnen und Patienten, die zuhause zurückgezogen oder isoliert gelebt haben, finden bei uns einen Resonanzraum. Sie sind im Kontakt mit Ärztinnen, Therapeuten und anderen Patienten. Sie können sich austauschen in einem vertrauensvollen Umfeld und fühlen sich verstanden.» Gemeinschaft ist ein relevanter Faktor von Gesundheitsprävention.

Im Gespräch betont Katrin Merz die Wichtigkeit solcher Resonanzräume. Weil Menschen soziale Wesen sind, einander brauchen, auf gemeinsame Erfahrungen und den Austausch existenziell angewiesen sind. «Ich sehe immer wieder, wie Menschen aufblühen, wenn sie sich mit anderen über ähnliche Erfahrungen austauschen. Sie merken, dass sie nicht alleine mit ihrem Leiden sind und erleben das als entlastend.»

Bei sich sein

Authentische, gegenseitig nährende Beziehungen sind nur möglich, wenn wir in Verbindung mit uns selbst sind und uns trauen, uns mitzuteilen, in Verbindung zu gehen mit anderen. Denn Einsamkeit gibt es auch in Gesellschaft. Man kann sozial sehr eingebunden sein und sich dennoch einsam fühlen. Auch spielen oft negative Beziehungserfahrungen und somit fehlendes Vertrauen in andere, verbunden mit Rückzug und folgendem Einsamkeitserleben, eine Rolle. «Es ist wichtig, mit sich in Verbindung zu kommen», sagt Katrin Merz. «Achtsamkeitsübungen – und im therapeutischen Umfeld andere Spezialtherapien – helfen dabei, eigene Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, mit sich in Verbindung zu kommen, möglicherweise auch einen freundlicheren Umgang mit sich selbst zu erlernen.» Das seien Voraussetzungen für das Gelingen von gegenseitigen authentischen, nährenden Begegnungen – sozusagen das Antidot zu chronischem Einsamkeitserleben.

Man kann darüber spekulieren, was alles zur grassierenden Einsamkeit beiträgt. Der fortschreitende Individualismus, die Lebens- und Wohnformen – 1.3 Millionen Menschen leben in einem Einpersonenhaushalt –, eine Arbeitswelt, die immer mehr Burnout-Fälle produziert, Berufstätigkeiten, die als wenig sinnvoll wahrgenommen werden, oder die schwindende Bedeutung von Gemeinschaft. Klar ist, das Thema wird uns noch lange beschäftigen. Scheidungen, Trennungen und die demographische Entwicklung tragen dazu bei.

Auch die sozialen Medien fördern wirkliche Beziehungen nicht. Denn die Friends und Follower sind mehr Schein als Sein, oft der Selbstinszenierung und Selbstoptimierung verpflichtet. Menschen fühlen sich auch deshalb bedürftig, weil sie zu viel Zeit in einer virtuellen Welt verbringen und immer mehr Dienstleistungen über Online-Plattformen beziehen oder Käufe im Internet tätigen. Reale, zufällige und authentische Begegnungen finden so weniger statt. Kommt hinzu, dass wir häufig nicht da sind, wo wir sind, sondern schon beim Nächsten. Die vielen Optionen und die Angst, etwas zu verpassen, zerstreuen uns. Dabei wäre es einfach: einhalten, achtsam sein, ein vertrauensvolles Gespräch führen. Nochmals Katrin Merz: «Wir brauchen das Gemeinsame, den Austausch, wir brauchen nährende Begegnungen.»

Zur Person

Kathrin Merz ist Leitende Ärztin und Leiterin Schwerpunkt Alterspsychotherapie an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

08.12.2021

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Autor

  • Rolf Murbach

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