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«Es braucht zwingend wieder langfristige und nachhaltige Lösungen in der Lohnpolitik»

Die Mindestlöhne im Detailhandel steigen. Doch Umstrukturierungen und Reorganisationen sind sehr präsent, um auf die strukturellen Herausforderungen der Branche zu reagieren. Pascal Lamprecht, Fachverantwortlicher Sozialpartnerschaft beim Kaufmännischen Verband Schweiz, setzt sich in seiner Funktion für die Anliegen der Mitarbeitenden im Detailhandel ein. Seine Einschätzungen zur aktuellen Situation im Detailhandel im Interview

Die Lohnverhandlungen 2024 haben im Detailhandel zu höheren Mindestlöhnen und Teuerungsausgleichen geführt: Das sind doch gute Nachrichten

Auf den ersten Blick sind der Teuerungsausgleich und höhere Mindestlöhne eine Erfolgsmeldung. Wer genauer hinschaut, wird aber feststellen, dass die Resultate doch kritisch zu beurteilen sind. Zum einen kämpften wir Arbeitnehmer:innen-Vertreter:innen in den letzten beiden Jahren im Rahmen vieler GAV-Lohnverhandlungen nur schon für den Teuerungsausgleich. Von effektiven Reallohnerhöhungen sind wir weit entfernt. Zum anderen setzen leider immer mehr Verhandlungspartner:innen anstelle von einem nachhaltigen Teuerungsausgleich leider lieber auf Einkaufsgutscheine, Einmalzahlungen oder individuelle Lohnanpassungen. So bleibt der Detailhandel eine Tieflohnbranche und unser Ziel als Angestelltenverband ist es klar, das Lohnniveau langfristig weiter zu erhöhen. 

Die Angestellten schätzen diese Einkaufsgutscheine und Einmalzahlungen sehr. Was bereitet euch damit Mühe? 

Einmalzahlungen, beispielsweise in Form von Einkaufsgutscheinen, sind als Bonus durchaus willkommen. Als Instrument im Rahmen des Teuerungsausgleichs lehnen wir diese jedoch ab, da sie nicht nachhaltig sind. Mit dieser Pflästerli-Politik erkaufen sich die Unternehmen den kurzfristigen Goodwill der Mitarbeitenden und verhindern so eine nachhaltige Lohnpolitik. 

In einem GAV konnte letztes Jahr mit der Erhöhung der Mindestlöhne die Tieflohngrenze überschritten werden. Wie kam es dazu?  

Mit der Sozialpartnerschaft haben wir sicher erreicht, dass in einzelnen Unternehmen der Mindestlohn gestiegen ist. Der Markteintritt der Discounter Aldi und Lidl 2005 respektive 2009 hat sicher Schwung in die Lohnthematik gebracht. Das hat in der ganzen Branche den Wettbewerb angekurbelt und Unternehmen gefordert, attraktive Anstellungsbedingungen und höhere Mindestlöhne anzubieten. Letztlich sind die Unternehmen alle auf gutes Personal angewiesen und stehen dabei in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Der Lohnaspekt ist somit zu einem entschiedenen Wettbewerbsvorteil geworden, um gut qualifizierte und produktive Mitarbeitende zu gewinnen. 

Der Lohn bleibt ein wesentlicher Aspekt? 

In einer Tieflohnbranche ist es sogar der wichtigste Aspekt, da existenziell. Wie viel bleibt am Ende des Monats im Portemonnaie übrig? Verdient jemand CHF 4100.-, machen CHF 40.- mehr oder weniger am Ende des Monats einen wesentlichen Unterschied.

«Unser Ziel als Angestelltenverband ist es klar, das Lohnniveau langfristig weiter zu erhöhen.»
Pascal Lamprecht, Fachverantwortlicher Sozialpartnerschaft

Eine Sozialpartnerschaft regelt aber nicht nur den Lohn. Von welchen Vorteilen konnten die Angestellten im Detailhandel dank der langjährigen Sozialpartnerschaft mit dem kaufmännischen Verband Schweiz zusätzlich profitieren? 

Sicher von einem ausgebauten Vaterschafts- und Mutterschaftsurlaub. Das ist ein Thema, bei dem der Kaufmännische Verband Schweiz schon länger ein Augenmerk darauf hat. Hier konnten wir in einigen GAV bereits signifikante Verbesserungen erreichen. 

Und ganz grundsätzlich: Eine Sozialpartnerschaft und ein entsprechender GAV führen dazu, dass die Arbeitsbedingungen besser sind, als wenn es keine solchen Regulierungen gibt. Neben dem Aushandeln der Verträge sind wir als Sozialpartner auch Ansprechspartner:in für die Mitarbeitenden bei allen Fragen rund um den GAV. Mit unseren Filialbesuchen zeigen wir Präsenz und haben immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Mitarbeitenden.  

Welchen Stellenwert besitzt eine Sozialpartnerschaft bei den Mitarbeitenden? 

Generell gilt, dass sich heute weniger Menschen in Vereinen engagieren oder Mitglieder einer Arbeitnehmerorganisation wie dem Kaufmännischen Verband sind. Von einer Sozialpartnerschaft/ GAV profitieren alle Mitarbeitenden, nicht nur die gewerkschaftlich organisierten. Sie profitieren davon, dass sich ihre Arbeitskolleg:innen und -kollegen engagieren und für ihre Arbeitsbedingungen einsetzten. 

Was bedeutet das für die Zukunft? 

Mitgliedschaften bei Vereinen oder Verbänden sind im Wandel. Der Kaufmännische Verband Schweiz hat auf diesen Wandel reagiert und hat mit seinem neuen Leitbild und seiner neuen Vision «Menschen stärken. Gemeinsam sind wir Zukunft.» das Fundament gelegt, um auf die neuen Gegebenheiten zu reagieren. Denn Jobprofile verändern sich, Menschen verändern sich und die Erwerbsbiografie ist nicht mehr linear. Vielleicht arbeitet man mal Teilzeit, dann wieder mehr oder wird gar selbstständig für eine Zeit. Das erschwert den Einzelnen, bei einem kollektiven Thema dabeizubleiben. Das ist unser Wettbewerbsvorteil als Verband: Wir bleiben konstant an den relevanten Themen und Trends der Arbeitswelt dran und haben so die Möglichkeit, langfristige Ziele zu erreichen.

«Wir bleiben konstant an den relevanten Themen und Trends der Arbeitswelt dran und haben so die Möglichkeit, langfristige Ziele zu erreichen.»
Lamprecht, Fachverantwortlicher Sozialpartnerschaft beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Was bedeutet das für die Sozialpartnerschaft?

Gerade wenn eine Branche von strukturellen Umbrüchen erfasst wird, kann eine Sozialpartnerschaft den Arbeitgeber:innen helfen, zu sehen, was ihre Mitarbeitenden beschäftigt und was ihnen Sorge bereitet. Neben unseren Filialbesuchen, bei denen wir die Stimmung der Mitarbeitenden abholen, haben wir eine Umfrage im Detailhandel gestartet, die uns Aufschluss über die Bedürfnisse und die aktuelle Situation der Mitarbeitenden geben soll. Diese Erkenntnisse werden wir in den Verhandlungen mit den Arbeitgeber:innen nutzen.

Zudem ist der Kaufmännische Verband Schweiz nicht nur in einer Branche als Sozialpartner tätig. Wir haben dadurch den Überblick, was in der Arbeitswelt passiert und wo welche Konzepte schon getestet werden. Diese Synergien sind wertvoll, weil innovative Ideen übertragen werden können und bis jetzt nicht genutztes Potenzial sichtbar wird. Daher halten auch viele Unternehmen an der Sozialpartnerschaft fest, weil sie sich seit ihrer gesetzlichen Verankerung 1911 klar bewährt hat. Weil sie flexibler ist und innovative Lösungen für neue Herausforderungen schneller implementiert werden können, die im Interesse aller Beteiligten sind.

Was sind momentan die grössten Herausforderungen im Detailhandel, neben den strukturellen Umbrüchen?

Frauen sind immer noch überproportional von der Tieflohnproblematik betroffen. Das hat damit zu tun, dass Frauen häufiger in Teilzeit-Pensen tätig sind als ihre männlichen Kollegen. Deshalb besitzen sie auch weniger Aufstiegschancen und ihre Lohnentwicklung stagniert. Das ist ein Punkt, bei dem wir uns als Sozialpartner verstärkt einsetzen: Es muss möglich sein, eine Weiterbildung im Teilzeit-Pensum zu absolvieren. Wer sich weiterbildet, kann auch mehr Verantwortung übernehmen. Gerade im Detailhandel ist ein solcher Aufstieg zur stellvertretenden Filialleiterin und dann zur Filialleiterin möglich.

Wie können Unternehmen Frauen dabei unterstützen?

Unsere Forderung ist, dass Unternehmen Frauen genügend Zeit und Raum geben, um sich zu qualifizieren. Im Rahmen einiger Sozialpartnerschaften haben wir mit der Einrichtung von Weiterbildungsfonds zwar schon die Möglichkeit, Mitarbeitende finanziell zu unterstützen: beispielsweise bei der Nachholbildung oder dem späteren Erwerb eines Eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses. Mit unserer politischen Allianz die plattform setzen wir uns für die Bildung einer vierten Säule ein.

Eine vierte Säule?

Es braucht neben den bestehenden drei Säulen der Vorsorge eine vierte Säule, die die Bildung als Voraussetzung sieht. Mit dem Ziel, sich immer wieder neu zu qualifizieren, die Agilität und Motivation zu fördern und sich an neue Verhältnisse – privat oder im Arbeitsleben – anzupassen.

Was ist unsere Forderung für die Lohnentwicklung im Detailhandel?

Der Detailhandel bleibt einer der drei grossen Branchen, die von der Tieflohnproblematik betroffen sind. Als langjähriger Sozialpartner der Branche fordern wir für das kommende Jahr ein Umdenken bei den Unternehmensspitzen: Es braucht zwingend wieder langfristige und nachhaltige Lösungen in der Lohnpolitik, um Reallohnverluste zu verhindern und das Lohnniveau insbesondere in den Tieflohnbranchen zu erhöhen. Davon profitieren auch die Unternehmen: Denn im Wettbewerb um Arbeitskräfte sind der Lohn und die Arbeitsbedingungen wichtige Faktoren, um diese für sich zu gewinnen und zu halten.

Infobox

  1. Mit über 38 500 Mitgliedern ist der Kaufmännische Verband der grösste Angestelltenverband im kaufmännischen-betriebswirtschaftlichen Bereich und ist die einzige Organisation im Detailhandel, die mit den wichtigsten Food- und Convenience-Händlern (Migros, Coop, Lidl, Globus, Valora) eine Sozialpartnerschaft pflegt.

Autor:in

  • Dominic Karrer

    Junior Communications Manager beim Kaufmännischen Verband Schweiz

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