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Vier-Tage-Woche: ein Arbeitsmodell der Zukunft? (Teil 1)

Weniger arbeiten bei gleichem Lohn: Was nach Wunschdenken klingt, ist für viele Menschen in Island mittlerweile zur Realität geworden. Nachdem die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit mehrere Jahre lang getestet wurde, haben über 85% der arbeitenden Bevölkerung nun die Möglichkeit, ihre Arbeitswoche bis zu drei Stunden zu verkürzen – ohne Lohneinbussen. Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband, erklärt uns, wie die Vier-Tage-Woche funktioniert und welche Vorteile sie mit sich bringt.

Inwiefern haben die Digitalisierung, Automatisierung und Flexibilisierung der Arbeit das Bestreben nach neuen Arbeitsmodellen ins Rollen gebracht? 

Ursula Häfliger: Das Verständnis von Arbeit befindet sich unter dem Einfluss von Digitalisierung und Postwachstumsbewegungen grundlegend im Wandel: Die klassische Karriere hat ausgedient, die Sinnfrage rückt immer mehr in den Vordergrund. Da auch die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben in Zeiten von Homeoffice und Flex Work zunehmend verschwinden, ist es wichtig, dass sich sowohl Arbeitnehmer:innen wie auch Arbeitgeber:innen ganzheitlich mit den Aspekten Gesundheit und Vereinbarkeit auseinandersetzen. Die Work-Life-Balance hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen und gilt insbesondere bei den jüngeren Generationen als zentrales Kriterium bei der Auswahl des Arbeitgebers. Das betätigt beispielsweise auch die «LinkedIn 2022 Global Talent Trends»-Studie: Die Work-Life-Balance steht bei Jobsuchenden zuoberst – vor Salär und Zusatzleistungen, gefolgt von dem Bedürfnis nach einer guten Unternehmenskultur und einem klaren Purpose. Talente verlangen heute maximale Flexibilität und wollen selber entscheiden, wo und wann sie arbeiten. Und die Gesundheit hat dabei stets Priorität. Wollen Unternehmen in Zeiten des internationalen Wettbewerbs um Talente qualifizierte Angestellte finden, fördern und halten, müssen sie das System Arbeit neu denken. Und dafür braucht es auch den Support der Politik und die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen.

In den letzten Jahren haben verschiedene Länder Versuche mit flexiblen Arbeitsmodellen durchgeführt. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?  

Eines der bekanntesten Beispiele ist wahrscheinlich Island mit zwei mehrjährigen, grossangelegten Testläufen zur Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit (siehe Infobox). Auch Spanien, Schweden, Schottland und Wales haben bereits mit neuen Arbeitsmodellen experimentiert. Im Februar 2022 wurde in Belgien der Anspruch auf eine Vier-Tage-Woche beschlossen und gesetzlich verankert. So können Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitszeit künftig flexibel auf vier oder fünf Arbeitstage verteilen; Bei gleichbleibenden Arbeitszeiten von 38 Stunden pro Woche. Über diese vereinzelten Testläufe hinaus sind es jedoch vor allem Unternehmen, die die Vier-Tage-Woche für ihre Belegschaft eingeführt haben – vor allem in Wissens- und Kreativberufen sowie in der hochautomatisierten Produktion. Regierungen hingegen hinken mit landesweiten Regulierungen noch etwas hinterher.  

Wie dürfen wir uns eine verkürzte Arbeitswoche also vorstellen? Welche Modelle stehen aktuell zur Debatte?

Es gibt unterschiedliche Modelle zur Verkürzung der Arbeitswoche. Erstens, eine Verkürzung der Arbeitswoche ohne Reduzierung der Wochenarbeitszeit, wie es in Belgien geltend gemacht werden kann. Hier wird die wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden auf 4 statt 5 Tage verteilt und die Arbeitstage werden entsprechend länger (9.5 Stunden). Der Lohn bleibt unverändert und auch die Verteilung der Arbeitslast ist unverändert, d.h. dieselbe Arbeit wird nicht durch mehr Leute erledigt. Da der Lohn gleichbleibt, gibt es auch keinen Einfluss auf das Konsumverhalten der Angestellten. Besonders zu beachten sind hier die gesetzlichen Pausen- und Ruhezeitbestimmungen. 

Die zweite Möglichkeit ist eine Reduktion der Wochenarbeitszeit, wie es z.B. in Frankreich oder Island der Fall ist mit einer 35- bzw. 36-Stunden-Woche. Das kann kürzere Arbeitstage oder eine kürzere Arbeitswoche bedeuten. Auch bei diesem Modell gibt es zwei Varianten. Der Lohn kann bei reduzierter Arbeitszeit gleichbleiben oder er wird auch entsprechend angepasst. Letztere Möglichkeit ist wohl eher für ein betriebliches Arbeitszeitmodell attraktiv, nicht für eine gesetzliche Regelung.

«Im Februar 2022 wurde in Belgien der Anspruch auf eine Vier-Tage-Woche beschlossen und gesetzlich verankert. So können Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitszeit künftig flexibel auf vier oder fünf Arbeitstage verteilen.»
Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Infobox

  1. In zwei grossangelegten Experimenten hat Island von 2015 bis 2019 eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit getestet: So wurde die Wochenarbeitszeit für 2500 Arbeitskräfte in der öffentlichen Verwaltung (mehr als 1% der berufstätigen Bevölkerung) von 40 auf 35 oder 36 Stunden verkürzt – bei gleichbleibender Bezahlung. Der jahrelange Testlauf wurde von den städtischen Behörden der Hauptstadt Reykjavík, der isländischen Regierung und dem Gewerkschaftsbund BSRB durchgeführt.

    Die isländische Non-Profit-Organisation Alda (Association for Democracy and Sustainability) die die Ergebnisse gemeinsam mit dem britischen Thinkthank Autonomy ausgewertet hat, sah gleichermassen positive Effekte für Arbeitnehmer:innen und Unternehmen.

    • Die Arbeitszeit wurde langfristig betrachtet reduziert.
    • Durch optimierte Arbeitsabläufe und effizienter genutzten Arbeitszeiten entstanden neue Strategien, die Arbeit zu bewältigen, insbesondere in stärkerer Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen.
    • Produktivität und Leistungserbringung seien überwiegend gleichgeblieben oder hätten sich verbessert.
    • Auch das Privatleben sei positiv von der verringerten Arbeitszeit beeinflusst worden. Den Studienteilnehmer:innen blieb mehr Zeit für private Verpflichtungen, für sich selbst und ihre Familien.
    • Das Wohlbefinden der Mitarbeitenden habe sich dadurch verbessert.

    Nach Abschluss der Versuchsreihe und angesichts einer verbesserten Work-Life-Balance und gleichbleibenden Produktivität, haben isländische Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände  verschiedene Gesamtarbeitsverträge (GAV) im Dienstleistungssektor abgeschlossen, welche Arbeitszeitreduktionen vorsehen. Der grösste davon –  für Einzelhandels- und Büroangestellte –  sieht eine Arbeitszeitreduktion von 45 Minuten pro Woche vor. Mit einer Reduktion der Pausenzeit, kann die Arbeitszeit bis zu 2.45 Stunden pro Woche verkürzt werden. Insgesamt haben nun über 85% der gesamten ar­bei­ten­den Be­völ­ke­rung das Recht auf verkürzte Arbeitszeiten. Diese werden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart. Es gilt aber keine explizite Vier-Tage Woche. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit in Island beträgt 40 Stunden inklusive Pausen. Die tägliche Ruhezeit beträgt (wie in der Schweiz) 11 Stunden und es gilt ein Arbeitsverbot am Sonntag.

Wo sehen Sie den grössten Vorteil einer Vier-Tage-Woche bzw. von Arbeitsmodellen mit reduzierten Arbeitszeiten?

Wenn gleichzeitig die Arbeitszeit reduziert wird, dann profitieren Arbeitnehmer:innen von mehr Freizeit bei gleichem Lohn. Sie haben mehr Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten, Vereinsarbeit usw., was wiederum der Gesellschaft als Ganzes zugutekommt. Unternehmen profitieren dadurch von gesünderen, zufriedeneren und leistungsfähigeren Mitarbeitenden, die dank mehr Zeit und Abstand ausserdem kreativer werden. Längere Erholungsphasen wirken sich positiv auf die Gesundheit aus. Mitarbeitende, die eine kürzere Arbeitswoche haben, fühlen sich weniger gestresst und sind seltener krank als andere Arbeitnehmer:innen. Das bestätigen auch die grossangelegten Experimente in Island.

…und wo den grössten Nachteil?

Insbesondere in einer Übergangszeit können bei Arbeitnehmenden Überstunden entstehen. Diese würden einen höheren Zeitdruck und Stress generieren, was sich wiederum negativ auf die Gesundheit der Mitarbeitenden auswirkt. Wird die Arbeitswoche nur kompakter, nicht kürzer, kann das je nachdem immer noch positiv sein. Bei längeren Arbeitstagen muss aber auch darauf geachtet werden, dass die nötigen Ruhezeiten eingehalten werden.

Bei der Reduktion der Wochenarbeitszeit stehen aber nicht nur die Aspekte Gesundheit und Vereinbarkeit im Vordergrund. Einige Wirtschaftswissenschaftler sind der Meinung, dass die Verkürzung der Arbeitszeit auch eine Lösung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sein kann.

Diese Idee ist vor allem in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit populär. In Ländern wie Spanien, mit einer Jugendarbeitslosigkeit von rund 30%, war sie ausschlaggebend für den Versuch mit der Vier-Tage-Woche. Man wollte Arbeitsplätze erhalten und auch eine gewisse Zahl neuer Arbeitsplätze schaffen, um die Arbeit innerhalb der Gesellschaft «gerechter» zu verteilen.

Und wie steht es um die Produktivität? Kann diese ebenfalls gefördert werden? 

Die Arbeitsproduktivität sagt etwas über das Verhältnis zwischen Input und Output aus. Einfach ausgedrückt, wenn jemand zwei Stunden braucht, um ein Produkt herzustellen (und auch zwei Stunden bezahlt wird) ist diese Person weniger produktiv als eine Person, die nur eine Stunde für dasselbe Produkt benötigt und nur für eine Stunde bezahlt wird. Es gibt aber verschiedene Hebel, um die Produktivität zu steigern – sowohl aus Firmen- wie auch aus Angestelltensicht.

Wie können Firmen ihre Produktivität optimieren?

Lohnsenkungen würden die Produktivität aus Firmensicht sicherlich steigern. Eine Firma könnte aber auch sagen: «Ich bezahle dich pro gefertigtes Produkt, nicht pro Arbeitsstunde.» Dann liegt es im Interesse des Angestellten, seine Arbeitsproduktivität zu steigern. Die Arbeitsproduktivität von Angestellten zu messen, macht allerdings nicht überall Sinn. In Wissensberufen wie z.B. als Fachperson oder Berater:in ist der Output schwerer messbar, denn der Zweck der Arbeit besteht in der Schaffung, Weiterentwicklung, Verbreitung oder Anwendung von Wissen. Auch in der hochautomatisierten Produktion (z.B. in der Autoproduktion) hat die Arbeit des Mitarbeitenden wenig Einfluss auf den Output. Der Output wird von Maschinen bzw. Robotern erzeugt.

«Wird die Arbeitswoche nur kompakter, nicht kürzer, kann das je nachdem immer noch positiv sein. Bei längeren Arbeitstagen muss aber auch darauf geachtet werden, dass die nötigen Ruhezeiten eingehalten werden.»
Ursula Häfliger, Leiterin Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Was heisst das jetzt in Bezug auf die Vier-Tage-Woche?

Wenn eine Firma eine begrenzte Anzahl an Aufgaben oder Produkten hat und ein bestimmtes Personalbudget, dann ist es aus Sicht der Firma durchaus sinnvoll, diese Aufgaben mit diesen Leuten auf weniger Tage oder Stunden zu verteilen, sofern die Aufgaben in diesem Zeitraum auch geleistet werden können. Hinzu kommen eine höhere Zufriedenheit und möglicherweise sogar eine verbesserte Gesundheit der Angestellten und je nachdem geringere Kosten für Infrastruktur.

Sobald die Firma aber mehr Leute einstellen muss – da sie z.B. fixe Präsenzzeiten hat – wird das für die Firma weniger attraktiv. Was für Firmen zudem die Produktivität verringert ist der Präsentismus. Leute sind physisch – oder neuerdings auch virtuell – anwesend, aber nicht zwingend produktiv. Die Forschung belegt zudem die Tendenz, dass oft diejenigen Leute befördert werden, die am sichtbarsten, sprich anwesend oder online, sind. Das kann zu suboptimalen Entscheidungen führen. Weniger produktiven Angestellten wird der Vorrang gegeben.

Eine Aufteilung der Arbeitszeit auf vier Tage pro Woche oder sogar eine Verringerung der Wochenstundenzahl – sei es bei gleichem oder reduziertem Gehalt – kann unter gewissen Umständen für ein Unternehmen und seine Angestellten also durchaus Sinn machen. Es kann zur Straffung von Arbeitsabläufen und einer gesteigerten Arbeitseffizienz führen. Die vorhandene Zeit wird produktiver genutzt und überflüssige Zeitfresser lassen sich einfach streichen. Als Resultat wird der Output nicht verringert.

Gilt dies auch für Branchen mit akutem Fachkräftemangel?

In Branchen mit Fachkräftemangel und gegenüber dem internationalen Wettbewerb (v.a. in der Produktion) kann eine Verkürzung der Arbeitszeit problematisch sein. In Tätigkeitsbereichen, in denen eine Verkürzung der Arbeitszeit Zusatzanstellungen zur Folge hätte (z.B. über Präsenzzeiten) und in denen der Fachkräftemangel sehr hoch ist, wäre es schwierig, die notwendigen zusätzlichen Arbeitskräfte zu gewinnen. Bei der sehr preissensiblen Herstellung von Produkten mit internationalem Wettbewerb würde eine de Facto Verteuerung der Arbeit wohl auch zu Standortverschiebungen führen. 

«Was für Firmen zudem die Produktivität verringert ist der Präsentismus. Leute sind physisch – oder neuerdings auch virtuell – anwesend, aber nicht zwingend produktiv.»
Ursula Häfliger

Ob solche Arbeitsmodelle auch in der Schweiz funktionieren würden, erfahren Sie im Teil 2 unseres Beitrags. Weiterlesen.

Autorin

  • Emily Unser

    Director of Marketing & Communications, Kaufmännischer Verband Schweiz
    Verantwortliche Kommunikation, die plattform

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