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Vier-Tage-Woche: ein Arbeitsmodell der Zukunft? (Teil 2)

Island, Spanien und zahlreiche weitere Industrieländer machen es vor: Nach intensiven Studien und Experimenten mit neuen Arbeitsmodellen haben sie entweder die wöchentliche Höchstarbeitszeit reduziert oder die Vier-Tage-Woche zugunsten einer verbesserten Gesundheit und Vereinbarkeit gesetzlich verankert. Können solche Arbeitsmodelle auch in der Schweiz funktionieren? Diese und weitere spannende Fragen haben wir Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband, gestellt.

In der Schweiz wird seit einigen Jahren über eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit diskutiert. Wie ist die Arbeit hierzulande eigentlich gesetzlich geregelt?

Ursula Häfliger: Grundsätzlich sind Wochenarbeitszeit und Verteilung der Arbeit im Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in geregelt. Darüber hinaus gelten auch die Bestimmungen der relevanten Gesamtarbeitsverträge (GAV). In der Schweiz iegt die Normalarbeitszeit, also die betriebliche Arbeitszeit, üblicherweise bei 42 Stunden pro Woche. Die Höchst- bzw. Mindeststandards bezüglich Überzeiten, Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten sind aber im Arbeitsgesetz festgehalten. So sieht das Arbeitsgesetz zum Beispiel eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 45 Stunden in Dienstleistungsbetrieben vor und eine minimale Ruhezeit von 11 Stunden pro Tag. Das heisst, innerhalb des gesetzlichen Rahmens gibt es auf vertraglicher Ebene viel Spielraum.

Wäre eine Vier-Tage-Woche unter dem aktuell geltenden Arbeitsgesetz überhaupt möglich?

Mit einer Normalarbeitszeit von 42 Stunden wäre eine Aufteilung auf vier Tage theoretisch möglich, aber mit den geltenden Ruhezeitvorschriften würde es eine hohe Disziplin verlangen, um das Gesetz einzuhalten, den Gesundheitsschutz zu gewährleisten und Arbeit und Privatleben miteinander zu vereinbaren.

Rechnen wir es mal durch…

Sehr gerne. In der Schweiz würde das Modell einer Vier-Tage-Woche und einer Normalarbeitszeit von 42 Stunden 10.5 Stunden Arbeit pro Tag und eine Pause von einer Stunde beinhalten. Der Arbeitstag wäre also 11.5 Stunden lang. Bei einer täglichen Ruhezeit von 11 Stunden, würden genau noch 2.5 Stunden zwischen Arbeits- und Ruhezeit übrigbleiben. Wenn das mit einem längeren Arbeitsweg verbunden ist, blieben den Angestellten noch rund 11 Stunden für Freizeitaktivitäten, inklusive Schlafenszeit. Das ist zwar möglich, aber kann unter Umständen schnell zu Einschränkungen im Privatleben führen und zu mehr Stress. Rechnet man mit dem gesetzlichen Maximum, also 45 Stunden pro Woche (ohne Überzeit), sieht das Bild noch düsterer aus.

«Mit einer Normalarbeitszeit von 42 Stunden wäre eine Aufteilung auf vier Tage theoretisch möglich. Die geltenden Ruhezeitvorschriften würde aber eine hohe Disziplin verlangen, um das Gesetz einzuhalten.»
Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Damit wären die gesundheitlichen Vorteile und diejenigen einer verbesserten Work-Life-Balance also wieder aufgehoben. Was wäre die Alternative?

Die Situation könnte mit einer vertraglich geregelten reduzierten betrieblichen Wochenarbeitszeit verbessert werden. Im Arbeitsvertrag würde dann stehen, dass im betroffenen Betrieb zum Beispiel 40 Stunden gearbeitet wird und die Arbeitszeit auf vier oder fünf Tage verteilt werden kann. Das gibt ein Maximum an Flexibilität. Eine Reduktion der gesetzlichen Ruhezeit würde höchstens dabei helfen, gesetzeskonform zu handeln. Es würde den Stress aber nicht reduzieren.

Damit die positiven Effekte der Vier-Tage-Woche erhalten bleiben, müsste die Wochenarbeitszeit also erstmal reduziert werden. Das liesse sich in einem Einzelarbeitsvertrag und via den einzelnen Branchen- und Unternehmens-GAV neu definieren. Überzeiten, Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten müssten anschliessend über das Arbeitsgesetz geregelt werden. Reden wir nun Tacheles: Wie stehen die Chancen für solche vertragliche und gesetzliche Anpassungen tatsächlich?

Die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Rea­li­tät ist die, dass weder ein gesetzlich festgelegtes Vier-Tage-Mo­dell bei reduziertem  Lohn, noch die 35-Stunden-Woche bei  gleichem Lohn politisch viel Chan­cen hätten. Das Bedürfnis nach mehr Flexibilität und einer besseren Balance zwischen Privat- und Berufsleben ist grösser geworden, doch das Schweizer Stimmvolk ist eher zurückhaltend bei solchen Veränderungen. Bisherige Bestrebungen die Arbeitszeit schweizweit zu reduzieren waren erfolglos. Erinnern wir uns zum Beispiel an den Vorstoss der Gewerkschaften 1956, die eine 44-Stunden-Woche einführen wollten, an die POCH-Initiative in den 80er Jahren oder an die parlamentarische Initiative von 1998 des damaligen SP-Nationalrats Jean-Claude Rennwald. Letztendlich dominiert die Angst vor negativen Konsequenzen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz, auf die Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität der Unternehmen, aber auch auf individueller Ebene.

«Die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Rea­li­tät ist die, dass weder ein gesetzlich festgelegtes Vier-Tage-Mo­dell bei reduziertem Lohn, noch die 35-Stunden-Woche bei gleichem Lohn politisch viel Chan­cen hätten.»
Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Wie können wir der Schweiz diese Angst nehmen?

Die Fälle Island und Belgien haben gezeigt, dass eine starke Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn kaum Chancen hat. Die Veränderung kann meiner Ansicht nach nur über den Arbeitsvertrag oder über einen GAV stattfinden – und nur in kleinen Dosen. Voraussetzung dazu sind ein relativ hohes Lohnniveau, ein grosser Dienstleistungssektor und ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad im Dienstleistungssektor. In Island sind alle diese Voraussetzungen erfüllt. In der Schweiz sind die Gewerkschaften vor allem im sekundären Sektor sowie in öffentlichen und bundesnahen Betrieben gut vertreten. Das zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass es in der Bundesverwaltung mittlerweile sehr fortschrittliche und flexible Arbeitsmodelle gibt. In ähnlichen Tätigkeiten in der Privatwirtschaft ist dies aber weniger der Fall, da sich die Unternehmen am Arbeitsgesetz orientieren müssen und oft nicht GAV-gebunden sind. Das Beispiel der Pa.Iv. Graber zum Arbeitsgesetz zeigt das exemplarisch. Hier wird – berechtigterweise – mehr Flexibilität für Wissensberufe verlangt. Die Vorteile sind aber eher einseitig. Man dürfte zwar länger am Stück und selbstbestimmter arbeiten, aber die Vorteile für die Angestellten wären auf die zeitliche Autonomie beschränkt. Anders als in der Bundesverwaltung, sind weder eine Verbesserung der Bedingungen im Homeoffice noch finanzielle oder zeitliche Kompensationen vorgesehen; Von einer Arbeitszeitreduktion ganz zu schweigen!

Der isländische Weg könnte auch in der Schweiz funktionieren aber eben nicht auf gesetzlicher Ebene, sondern auf vertraglicher Ebene, wie zum Beispiel im Rahmen eines Arbeitsvertrags oder eines GAV. Dazu müssten allenfalls einzelne Artikel im Arbeitsgesetz zur Ermöglichung solcher Abkommen angepasst werden.  

Welche Rolle kommt dabei der Privatwirtschaft zu? Können Unternehmen den Prozess beschleunigen?

Flexibles Arbeiten, Work-Life-Blending, neue Arbeitsstrukturen, sinnstiftende Tätigkeiten, Selbstfürsorge: Mit einem neuen Verständnis für die Arbeit im digitalen Zeitalter können wir uns für die Zukunft wappnen, die Komplexität reduzieren und einen gesunden und nachhaltigen Umgang mit Risiko und Unsicherheit in einer schnelllebigen Welt finden. Branchen und Unternehmen haben hier die Möglichkeit eine Vorreiter-Rolle einzunehmen und so Druck auf die Politik zu machen, damit solche Vereinbarungen unter dem Arbeitsgesetz auch tatsächlich ermöglicht werden. Wenn Unternehmen eine Vier-Tage-Woche fördern und ihre Mitarbeitenden entsprechend unterstützen, wäre eine kürzere Arbeitszeit auch gesellschaftlich denkbar. Dafür braucht es mutige und innovative Unternehmen und Führungskräfte, die mit gutem Beispiel vorangehen.

Wie die Vier-Tage-Woche funktioniert und welche Vorteile sie mit sich bringt, erfahren Sie im Teil 1 unseres Beitrags. Weiterlesen.

«Branchen und Unternehmen haben hier die Möglichkeit eine Vorreiter-Rolle einzunehmen und so Druck auf die Politik zu machen.»
Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz

Autorin

  • Emily Unser

    Director of Marketing & Communications, Kaufmännischer Verband Schweiz
    Verantwortliche Kommunikation, die plattform

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