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Die Laufbahn eines Bundesrats

Der ehemalige Bundesrat und UNO-Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden Adolf Ogi ist bei der Schweizer Bevölkerung nach wie vor sehr beliebt. Seine Karriere begann mit dem Besuch der Handelsschule in La Neuveville.

Offiziell befindet sich Adolf Ogi in Rente. Er wohnt in Fraubrunnen und Kandersteg, die Gemeinde im Berner Oberland, in der er geboren und aufgewachsen ist. Zu diesem Gespräch empfängt er uns jedoch in seinem Büro in Gümligen in der Nähe von Bern: «Nach meinem Rücktritt als Bundesrat war ich geistig bereit für den Ruhestand. Während dieser Tätigkeit stand ich jeden Tag um 4:45 Uhr auf und ging nie vor Mitternacht zu Bett. Ich war müde», erinnert er sich.

Seither sind beinahe zwanzig Jahre vergangen, aber er erhält noch immer zwischen zwanzig und vierzig Briefe täglich: «Ich werde immer noch gebeten, Ratschläge zu geben, Vorworte zu verfassen, Vorträge zu halten, auf Studentenfragen zu antworten usw. Wenn ich wollte, könnte ich jeden Abend eine Rede halten», erzählt er lächelnd. Auch wenn er anfangs etwas überrascht war, beklagt er sich nicht über seine Rolle als öffentliche Person und versucht lediglich auszuwählen, auf welche Anfragen er eingehen will.

Einen grossen Teil seiner Zeit widmet er der Stiftung «Freude herrscht», die er in Erinnerung an seinen Sohn Mathias gegründet hat, der früh an Krebs verstorben ist. «Ich hatte ein erfülltes Leben, blieb jedoch nicht von Kummer verschont: Der Tod des eigenen Kindes zu erleben, ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann; das ist sehr schwer», vertraut er uns an.

«Ich hatte ein erfülltes Leben, blieb jedoch nicht von Kummer verschont: Der Tod des eigenen Kindes zu erleben, ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann; das ist sehr schwer.»
Alt-Bundesrat Adolf Ogi:

Kandersteg – La Neuveville – London und wieder zurück

Während die meisten früheren und aktuellen Bundesräte eine universitäre Ausbildung absolviert haben (oft ein Rechts- oder Wirtschaftsstudium), ist Adolf Ogis Laufbahn in mehrfacher Hinsicht unkonventionell. Als Sohn eines Bergführers und begabter Skifahrer zog er eine Zeit lang eine Karriere als professioneller Skifahrer in Betracht. Sein Vater war jedoch anderer Meinung: «Als Skifahrer verdient man nicht genug, um eine Familie zu ernähren, studiere lieber. In unserem Land ist es wichtig, Fremdsprachen zu beherrschen!» Adolf Ogi nahm seinen Vater beim Wort: Zunächst absolvierte er eine Ausbildung in der französischsprachigen Handelsschule von La Neuveville, anschliessend spezialisierte er sich an der Swiss Mercantile School in London. «Um mir ein Jahr Studium in La Neuveville zu finanzieren, musste mein Vater als Bergführer 70-mal auf die Blümlisalp steigen. Und meine Ausbildung dauerte drei Jahre! Ich werde nie vergessen, was er für mich getan hat. Mein Vater war mein bester Freund.» In England arbeitete Ogi beinahe zwei Jahre lang in einem Textilunternehmen in der Gegend von Liverpool. Eines Abends hatte er die Gelegenheit, ein Konzert junger Musiker aus der Gegend, die allesamt originelle Haarschnitte hatten, zu besuchen. Genauso wie er selbst machten auch die Beatles in der Folge auf nationaler und internationaler Ebene Karriere.

Der Schweizer Skiverband: Das ideale Sprungbrett

Wieder zurück in der Schweiz leitete er eine Zeit lang das kleine Fremdenverkehrsbüro von Meiringen-Haslital: «Es handelte sich nicht um Zermatt oder Gstaad, wo sich die Touristen in Scharen einfinden, wir mussten uns wirklich nach Kräften bemühen», erinnert er sich. Die Leidenschaft fürs Skifahren verliess ihn jedoch nie, und zwei Jahre später bot ihm der Schweizer Skiverband (SSV) das Sprungbrett, bei dem er 17 Jahre lang seine Kompetenzen einbringen und weiterentwickeln konnte: «Neben meiner kaufmännischen Ausbildung verfügte ich über eine Ausbildung als Trainer und Skilehrer. Ich wurde als Technischer Direktor eingestellt und damit beauftragt, von den Olympischen Winterspielen in Sapporo 1972 Medaillen nach Hause zu bringen.» Die Herausforderung war gigantisch: Bei den Olympischen Winterspielen 1964 hatte die Schweiz keine einzige Medaille gewonnen.

Adolf Ogi musste den Skifahrern klar machen, wer das Kommando hatte: «Ich musste diese jungen Wölfe in die Mangel nehmen und ihnen klar machen, dass es nicht genügte, 100% bereit zu sein, da auch die anderen 100% bereit sind. Man muss zu 110% bereit sein! Viel spielt sich im Kopf ab, da man weder den Tag noch die Uhrzeit oder das Wetter wählen kann. Man muss in der Lage sein, zum gegebenen Zeitpunkt sein Bestes zu geben.» Mission erfüllt: Die Schweiz brachte zehn Medaillen aus Japan nach Hause, davon vier goldene.

Einige Jahre später wurde Adolf Ogi mit der Leitung des Verbands betraut. Die Funktion stellte sich als äusserst nützlich für seine spätere politische Karriere heraus: «Ich hatte mit den Kantonen, Gemeinden und politischen Akteuren zu tun. Man muss es verstehen, seine Strategie voranzubringen und gleichzeitig Vertrauen zu bilden und den Gesprächspartnern zuzuhören, selbst wenn diese Dummheiten von sich geben! Diese Tätigkeit hat auch mein Bewusstsein für die kulturellen und sprachlichen Unterschiede geschärft.»

Seine Führungskompetenzen und seine Expertise auf dem Gebiet des Sports erlaubten es ihm später, bei der Intersport Holding SA den Posten als Generaldirektor zu übernehmen, den er sieben Jahre lang bekleidete. «Es handelte sich immerhin um ein Unternehmen mit einem Umsatz von 150 Millionen, das war eine andere Welt! Diese Tätigkeit war auch ein wichtiger Meilenstein in meiner beruflichen Laufbahn, da die Leitung eines Sportverbands nicht ausgereicht hätte, um Bundesrat zu werden; es war auch Erfahrung mit der Leitung eines grossen Unternehmens erforderlich», erinnert er sich.

«Ich wurde als Technischer Direktor eingestellt und damit beauftragt, von den Olympischen Winterspielen in Sapporo 1972 Medaillen nach Hause zu bringen.»
Adolf Ogi über seine Tätigkeit beim Schweizer Skiverband (SSV):

Militärische Laufbahn

Bis zu seiner Wahl in den Bundesrat war Adolf Ogi in der Schweizer Armee aktiv. Als Gebirgsgrenadier besuchte er die Unteroffiziersschule und stieg bis zum Grad eines Majors auf. «Ich habe dort Führungskompetenzen erworben, die ich anschliessend im zivilen Leben anwenden konnte. So betrachtet war meine Militärlaufbahn meine Universität», fügt er hinzu. Beim Militär wurde ihm seine Berufung zur Führungskraft wirklich bewusst: «Ich erkannte, dass ich bereit war, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn das zuweilen bedeuten konnte, Schläge dafür einzustecken. Und ich begriff, dass ich die Chancen nutzen musste, die sich mir anbieten würden.»

Politische Laufbahn

Adolf Ogi war gewillt, zu führen – allerdings im Dienste des Allgemeinwohls: «Die Leitung eines Skiteams oder eines Unternehmens genügte mir nicht, ich wollte mich einer Gemeinde, einem Kanton oder dem Bund zur Verfügung stellen.» Er stand den Ideen des bürgerlichen Lagers nahe, betrachtete jedoch die freisinnige Partei zu dieser Zeit als zu elitär und trat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) bei. Danach ging alles sehr schnell: 1978 trat er der Partei bei und 1979 wurde er zum Nationalrat gewählt. Vier Jahre später übernahm er die Präsidentschaft der SVP, und wiederum vier Jahre später wurde er Mitglied des Bundesrats. In den Medien wurde spekuliert, ob dieser ehemalige Sportmanager ohne Universitätsabschluss und ohne Erfahrung in einer Exekutive über die notwendigen Kompetenzen verfüge, um die oberste Staatsfunktion auszuüben. Mehr als alle anderen musste er sein Können unter Beweis stellen: «Ich fühlte mich beobachtet und immer unter Druck. Einige Angriffe waren schwierig zu verdauen».

Als Bundesrat hat er einiges erreicht wie die Annahme des Beschlusses über die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), als er dem Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (heute UVEK) vorstand. Er bleibt er vor allem als Baumeister der engen Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten in Erinnerung. «Es ist uns damals gelungen, hervorragende Beziehungen zu unseren Nachbarn zu unterhalten. Wir verstanden uns. Während Präsident Mitterrand nach Kandersteg gekommen war, um mich zu besuchen, nahm sich Präsident Macron anlässlich seiner Reise nach Lausanne wegen der Austragung der Olympischen Spiele 2024 in Paris nicht Zeit, dem Bundesrat einen Besuch abzustatten. Die Zeiten sind für uns härter geworden», bedauert der ehemalige Bundesrat.

«Ich erkannte, dass ich bereit war, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn das zuweilen bedeuten konnte, Schläge dafür einzustecken. Und ich begriff, dass ich die Chancen nutzen musste, die sich mir anbieten würden.»
Adolf Ogi über seine Armee-Laufbahn:

Kultur und Sport für eine bessere Welt

Adolf Ogi stellt neben den veränderten Beziehungen zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn auch eine gewisse Unsicherheit auf globaler Ebene fest. «Wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf unvorhersehbare Weise verhalten, ist das nie gut und darf nicht andauern!» Gemäss dem ehemaligen Bundesrat benötigt die Welt dringend vernünftige politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, religiöse und spirituelle Führungspersönlichkeiten. Für ihn liegt die Lösung für eine bessere Welt bei der Jugend und kann mithilfe von Sport und Kultur herbeigeführt werden: «Im Sport lernt man, zu gewinnen oder zu verlieren, ohne dass deswegen die Welt untergeht. Man lernt auch, den Gegner zu respektieren, die Entscheidung des Schiedsrichters zu akzeptieren und sich in ein Team zu integrieren. Und wenn man die rote Karte erhält, dann leidet das Team zwar darunter, aber es wirkt sich nicht auf das Berufsleben aus. Man lernt sein Temperament, seinen Charakter und seine Verhaltensweisen in schwierigen Situationen kennen. Es handelt sich um die beste Schule des Lebens!»

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Adolf Ogi nach seinem Mandat als Bundesrat sofort zusagte, als ihm der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan anbot, sein Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden zu werden. Sieben Jahre lang setzte er sich mit Leib und Seele für dieses Ideal ein, indem er z. B. Fussballspiele zwischen israelischen und palästinensischen Kindern organisierte, Integrationsprogramme ehemaliger Soldatenkinder in Sierra Leone unterstützte oder diplomatische Bemühungen zwischen Indien und Pakistan mithilfe von Kricket förderte.

Adolf Ogi fasst seiner Karriere so zusammen: Es sei keine fehlerfreie Laufbahn gewesen, aber er habe sich bei allem, was er tat, immer voll und ganz eingesetzt. Und er schreibt einige seiner Erfolge bescheiden dem Glück zu, das ihm oft wohlgesinnt war.

Erstmals veröffentlicht: 1.6.2018
Aktualisiert: 15.1.2022

«Im Sport lernt man, zu gewinnen oder zu verlieren, ohne dass deswegen die Welt untergeht. Es handelt sich um die beste Schule des Lebens!»
Adolf Ogi über den Sport:

Autor

  • Dominique Nussbaum

Foto

  • Estelle Vidon

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