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«Wir lernen gerade sehr viel»

Krisen können bei vielen Menschen zu Angstzuständen führen. Entscheidend für die Lebensqualität ist, wie man damit umgeht. Krisen bringen aber auch Positives, weil sie Menschen auf Wesentliches zurückwerfen, sagt Dietmar Hansch.

Herr Hansch: In Krisen, wie wir mit Corona gerade eine erleben, ist Angst ein grosses Thema. Was ist wichtig im Umgang mit Angst?

Ich sollte mich nicht den inneren katastrophisierenden Automatismen überlassen, sondern versuchen, einen Schritt zurückzutreten und mir beruhigende Gedanken bewusst machen, wie zum Beispiel: «Ich gehöre nicht zu einer Risikogruppe. Die Gefahr ist also klein, dass mir etwas passiert. Ich kann mich zudem gut schützen.» Risikopatienten mit Vorerkrankungen wiederum können sich sagen: «Ich gehöre zwar einer Risikogruppe an, aber auch ich kann mich durch entsprechendes Verhalten besonders gut schützen.» Natürlich ist eine Selbstisolation psychisch nicht einfach.

Dietmar Hansch
Ist an der Psychiatrischen Privatklinik Hohenegg Leitender Arzt und Schwerpunktleiter Angsterkrankungen. Er ist Autor mehrerer Publikationen, unter anderem zu Burn-out und Angsterkrankungen.

Wie wichtig sind Ressourcen?

Wichtig. Man sollte sich die eigenen Ressourcen bewusst machen und sie pflegen. Bewegung, guter Schlaf, soziale Kontakte – auch über Telefon und digitale Medien – stärken die Ressourcen. Und alles, was von der Krise ablenkt, was man gerne tut, was einen fasziniert, ist ebenfalls sinnvoll: ein spannendes Buch lesen, Musik hören, Computerspiele. Schliesslich dürfen wir nicht vergessen: Im Kern sind wir immer noch Wildtiere und für den Umgang mit solchen Naturgefahren gut aufgestellt. Wir haben ein leistungsfähiges Immunsystem. Zudem zeigt die Geschichte, dass die Menschen im Umgang mit Katastrophen grosse Bewältigungskapazitäten aufweisen. Die Krise wird am Schluss vielleicht auch etwas Gutes haben. Als Gesellschaft werden wir für kommende Ereignisse besser aufgestellt sein – in Bezug auf den Katastrophenschutz und den Umgang mit solchen Gefahren.

Der übermässige Medienkonsum trägt nicht zu einer Beruhigung bei.

Die Medienhygiene ist eine weitere wichtige Massnahme, um mit einer Krise zurechtzukommen. Man sollte sich den zum Teil fragwürdigen Informationen nicht aussetzen. Es gibt so viele schwachsinnige und irreführende Beiträge, Verschwörungstheorien und Fake News. Zudem bringt es nichts, stündlich im Newsticker die Katastrophenmeldungen zu verfolgen. Das ist der Gesundheit abträglich. Sinnvoll ist ein bewusster Medienkonsum: ein- bis zweimal täglich sich in Qualitätsmedien über den Stand der Dinge informieren.

«Im Kern sind wir immer noch Wildtiere und für den Umgang mit solchen Naturgefahren gut aufgestellt. Wir haben ein leistungsfähiges Immunsystem.»
Dietmar Hansch

Menschen, die Angst haben, kommen häufig ins Grübeln, steigern sich gedanklich in etwas hinein. Was können sie tun?

Aktiv sein, ins Handeln kommen. Etwas tun, was man als sinnvoll erachtet. Wer von einem Mundschutz überzeugt ist, soll sich einen Mundschutz besorgen, das gibt ein gutes Gefühl und einen gewissen Schutz bei richtigem Gebrauch. Wer zuhause ist, kann irgendwelche Arbeiten anpacken, etwas tun, was er schon lange machen wollte: malen, aufräumen, schreiben, kochen, Dinge reparieren, was auch immer. Wer in Kurzarbeit ist, könnte irgendwo helfen, zum Beispiel für ältere Menschen einkaufen, sich bei der Gemeinde für Freiwilligenarbeit melden. Handeln ist ein wirksames Mittel gegen Angst.

Gibt es weitere Mittel für Menschen, die schwierige Zeit zu überstehen und mit Ängsten klarzukommen?

Vor kurzem habe ich von einem Rechtsanwalt ein Mail bekommen, in dem er schreibt, unser Hörbuch zum Umgang mit Depression und Angst hätte ihm in einer sehr schwierigen Zeit enorm geholfen. Selbsthilfeliteratur, Online-Hilfsangebote, all das ist sicher sinnvoll – gerade in Zeiten, in denen der direkte Kontakt möglicherweise etwas schwieriger ist.

«Sinnvoll ist ein bewusster Medienkonsum: ein- bis zweimal täglich sich in Qualitätsmedien über den Stand der Dinge informieren.»
Dietmar Hansch

Was lernen wir in einer solchen Krise, und was nehmen wir mit für die Zeit danach?

Die Krise kann ein Training im Einüben von Flexibilität sein: aus herkömmlichen Mustern ausbrechen, Neues ausprobieren. Ich zum Beispiel kann nicht mehr ins Fitnesstraining gehen. Ich habe das eigene Körpergewicht als Trainingsgerät wiederentdeckt, mache Klimmzüge am Geländer im Treppenhaus und Liegestütze. Das geht auch und hat seinen eigenen Charme.

Und wir sind langsamer unterwegs.

Wir entschleunigen unseren Alltag und üben uns in Langsamkeit. Das hat viel Gutes. Wir sind zurückgeworfen auf das Wesentliche. Wir müssen lernen, mit uns zurechtzukommen, können uns weniger ablenken durch Aktivismus. Und wir haben Zeit für Lektüre und die Pflege von Beziehungen.

Was heisst: zurückgeworfen sein auf das Wesentliche?

Zu lernen, dass wir Glück und Zufriedenheit auch aus inneren Quellen beziehen. Wir sollten diese Quellen pflegen und ausbauen. Das kann heissen: Ich meditiere, schreibe Tagebuch, lese mal wieder ein dickeres Buch, nehme mir Zeit fürs Nachdenken und philosophische Fragen. Wir erfahren dadurch, dass das Abrücken von einem aussenreizgetriebenen Leben, der Verzicht auf Medien und Konsum den inneren Raum für wirkliche Erfüllung öffnet.

Normalerweise haben wir Schwierigkeiten, uns von all den Reizen abzugrenzen, weil die Angebote verlockend sind und uns kurzfristig belohnen. Die Krise zwingt uns nun zu einer langsameren Gangart, so haben wir Gelegenheit, Ressourcen aufzubauen. Viele erleben den Konsumverzicht und den etwas ruhigeren Alltag als bereichernd und nachhaltig.

Veröffentlicht am: 7.5.2020

«Wir müssen lernen, mit uns zurechtzukommen, können uns weniger ablenken durch Aktivismus.»
Dietmar Hansch

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