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Die Kunst, Nein zu sagen

    Es gibt viele Gründe, sich gut zu fühlen, wenn man zu einer Sache Ja gesagt und sie erledigt hat. Willigt man allerdings zu oft ein, droht die Gefahr, sich aufzureiben.

    „Könntest du mir vielleicht bei der Präsentation für das Meeting helfen?“, „Hättest du Zeit, mir bis heute Mittag die Notizen zur Sitzung zukommen zu lassen?“ oder „Das muss dringend fertig werden, kannst du heute länger bleiben?“ Diese Fragen um Hilfe oder um einen Gefallen kennen wir wohl alle. Ohne gross nachzudenken, antworten wir darauf meist mit einem Ja – insbesondere, wenn die Frage von der Vorgesetzten kommt. Denn es liegt in unserem Naturell, uns mit allen gut zu stellen und niemanden vor den Kopf stossen zu wollen. Auf diese Verhaltensweise werden wir schon früh geprägt, wie Leila Gisin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Betriebs- und Regionalökonomie an der Hochschule Luzern weiss. „In der gut schweizerischen Sozialisation sind Nein-Sager verpönt.“ Gesellschaftlich wird es hierzulande nicht gern gesehen, wenn ein Gefallen abgeschlagen wird. „In meinem Arbeitsumfeld beobachte ich immer wieder, dass etwa Deutsche viel einfacher Nein sagen können“, so Gisin. Dass es uns schwerfällt, auf ein Begehren negativ zu reagieren, hat aber nicht allein mit der Prägung in der Kindheit oder der Nationalität zu tun. Auch die Entwicklung in der Arbeitswelt hat einen grossen Einfluss: „Die Industrialisierung hat uns sozusagen zu Ja-Sagern erzogen“, sagt die Wissenschaftlerin. Während vor der industriellen Revolution jeder selbstbestimmt auf seinem Bauernhof arbeitete und seine Zeit selbst einteilen konnte, gab es in der Fabrik plötzlich einen Patron. Der verteilte nicht nur die Aufgaben, sondern bestimmte auch über die Arbeitszeit. Aufzumucken wagte damals kaum jemand, sonst drohte der Verlust der Stellung. „Diese patriarchalische Arbeitsweise wirkt bis heute nach“, so Gisin.

    „Diese patriarchalische Arbeitsweise wirkt bis heute nach“
    Leila Gisin

    Frauen stellen sich rascher zurück

    Dabei sind inzwischen längst andere Verhaltensweisen gefragt: Anstatt unbedingtem Gehorsam wird von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern heute erwartet, mitzudenken, selbst Entscheidungen zu treffen und auf Abruf bereitzustehen. „Wir befinden uns heute am Beginn zum Zeitalter der Digitalisierung, auch in der Arbeitswelt“, erklärt Gisin. Damit verändert sich unsere Umwelt erneut – Jahresarbeitszeit, ständige Erreichbarkeit und Leistungsdenken prägen unsere Gesellschaft. Ja-Sager reiben sich im digitalen Zeitalter deshalb schnell auf – bis zur Erschöpfung oder gar zum Burn-out. Es gilt also, Grenzen zu setzen, sonst droht man unterzugehen. Das gilt im Besonderen für Frauen, die soziokulturell noch heute fürsorglicher agieren und sich rascher zurückstellen als Männer. „Hier wirken zwar noch immer Urinstinkte, aber je selbstbewusster ein Mädchen erzogen wird, umso besser kann es als Erwachsene später Nein sagen“, so Gisin. Denn ablehnend auf eine Bitte zu reagieren, hat viel mit Selbstbewusstsein zu tun – schliesslich macht man sich damit im Büro auch mal unbeliebt. Die netten, hilfsbereiten Kollegen, die niemals Nein sagen – die mag jeder. Denn sie erleichtern das Arbeitsleben. Das eigene vor allem. Wer anderen seine Hilfe allzu bereitwillig zukommen lässt, zahlt dafür einen hohen Preis: Überlastung, Verzetteln und mehr Fehler sind noch die geringsten Folgen. „Irgendwann ist man nicht mehr der Pilot seines eigenen Lebens, sondern nur noch fremdgesteuert“, sagt Jacqueline Steffen, Coach und Inhaberin von The Business Training Company GmbH.

    Ich bin unersetzlich

    Die Gesellschaft macht es Nein-Sagern schwer, denn grundsätzlich wird es positiv gewertet, wenn sich Menschen am Arbeitsplatz gegenseitig unterstützen oder bei Bedarf die Hilfe anderer einfordern. Zudem verschafft altruistisches Helfen ein gutes Gefühl: Man wird etwa in seinem Selbstbild als Teamplayer gestärkt, der seine eigenen Interessen auch einmal zurückstellt. Es fühlt sich gut an, gebraucht zu werden und man empfindet sich vielleicht sogar als unersetzlich. Ja-Sager agieren zudem oft unbewusst, da sie mit der Enttäuschung der Kollegen nicht umgehen können und die Schuldgefühle stärker wiegen als der Umstand, eventuell eine Stunde länger arbeiten zu müssen. „Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass man mit einem Ja vielleicht den Kollegen zufrieden stellt, aber jemand anderes zu kurz kommt“, stellt Steffen klar. Etwa der Partner, der am Abend ins Theater wollte oder die Kinder, die am Wochenende an den Fussball-Match möchten. „Schiebt man dauernd Überstunden, weil man nicht Nein sagen kann, geht die Lebensqualität irgendwann den Bach hinunter.“

    „Irgendwann ist man nicht mehr der Pilot seines eigenen Lebens, sondern nur noch fremdgesteuert“
    Jacqueline Steffen

    Prioritäten setzen

    Während es bei den Kolleginnen und Kollegen vergleichsweise leichter fällt, auch einmal eine Bitte abzuschlagen, sieht die Situation bei den Vorgesetzen anders aus. „Der wahrscheinlich verbreitetste Grund fürs Ja-Sagen ist die Angst vor den Konsequenzen, die sich aus einer Absage entwickeln könnten“, weiss Leila Gisin. Gerade wenn der eigene Chef die Bitte äussere, sei der erste Reflex immer zunächst die Zusage. Lorbeeren verdient man sich mit viel Hilfsbereitschaft längerfristig aber keine: Am Ende werden die Ja-Sager von der Vorgesetzten gar weniger respektiert als jene, die ab und an Grenzen setzen und selbstbewusst Nein sagen. Heute sind Mitarbeitende gefragt, die Prioritäten setzen und realistisch einschätzen können, welche Zusatzaufgaben sie bewältigen können und welche nicht. „Zudem müssen auch die Vorgesetzten die Grenzen ihrer Mitarbeiter erkennen können oder diese eben aufgezeigt bekommen.“ Selbstverständlich heisst das nicht, dass man nun jede Bitte abschlagen muss, um glücklicher zu werden und Karriere zu machen. Vielmehr gilt es, ein Gespür zu entwickeln, in welchen Situationen ein Ja und wo ein Nein angebracht ist. Notorische Ja-Sager sollten sich bei einer Anfrage deshalb erst einmal auf die Zunge beissen und Bedenkzeit einfordern. „Denn gerade unter Zeitdruck fallen wir oft in alte Verhaltensmuster zurück und sind verleitet, nachzugeben“, weiss Jacqueline Steffen. Dadurch lassen sich in aller Ruhe Entscheidungen fällen und eine passende Antwort formulieren.

    Üben für eine bessere Zukunft

    Häufig ist es nicht die Antwort, die wir geben, sondern die Art und Weise, mit der wir andere vor den Kopf stossen. Das gilt ganz besonders für das Abschlagen einer Bitte oder einer Aufforderung. Im Büro öfters Nein zu sagen, erfordert diplomatisches Geschick. Statt einfach nur schnippisch „Nein, kann ich nicht“ zu entgegnen, ist es immer hilfreich, alternative Optionen aufzuzeigen. Man kann etwa einen Kontakt zu einem Kollegen vermitteln, von dem man weiss, dass er ebenso kompetent ist. Steffen: „Man kann aber auch anbieten, dem Fragestellenden zu einem anderen Zeitpunkt zu helfen. Viele Dinge können auch später erledigt werden und sind durchaus verhandelbar.“ Zwar ist es oftmals sinnvoll, wenn das Nein zumindest ansatzweise begründet wird. Rechtfertigen muss man sich dafür jedoch nicht. Genauso wenig sollte man sich für eine ablehnende Reaktion entschuldigen. Menschen, die in der Vergangenheit Wünsche ohne Wenn und Aber akzeptiert haben, fällt eine Verhaltensänderung oft schwer. „Besonders dann, wenn das Umfeld sich daran gewöhnt hat, dass man jede Bitte erfüllt und dementsprechend enttäuscht auf eine Absage reagiert“, so Leila Gisin. Der erste Schritt, um aus diesem Teufelskreis herauszufinden, ist laut der Fachfrau ständiges Üben. Kleine Erfolge sind wichtig: „Am besten beginnt man deshalb in einfachen Situationen, wo das Nein sagen leichter fällt.“ Ein „Nein“ ist zwar eine durchaus egoistische Entscheidung, dient jedoch dem Selbstschutz. Jacqueline Steffen: „Wer zweifelt, sollte immer bedenken, dass jedes Ja für die anderen ein Nein zu sich selbst ist.“

    „Wer zweifelt, sollte immer bedenken, dass jedes Ja für die anderen ein Nein zu sich selbst ist.“
    Jacqueline Steffen
    • Helen Weiss

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