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«Die Sinnfrage rückt ins Zentrum»

Wer seine Laufbahn bewusst gestalten will, muss über sein Leben nachdenken. Die Reflexion hat eine wichtige Funktion in der Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Situation und ermöglicht Veränderung, sagt Caroline Schultheiss.

Frau Schultheiss, Sie haben Ihre Beratungen vom Homeoffice aus durchgeführt. Wie ist das gelaufen?

Caroline Schultheiss: Sehr gut. Die meisten Klientinnen und Klienten haben sich darauf eingelassen. Zum Glück hatten wir ein spezielles Online-Beratungstool mit Whiteboard. Ich konnte also wie mit einem realen Flipchart Prozesse skizzieren und Ergebnisse festhalten, was ich als wichtig erachte. Zudem kann man sich immer wieder in den gleichen virtuellen Raum einloggen und auf Beratungsergebnisse von früheren Sitzungen zurückgreifen. Schliesslich ist die Datensicherheit gewährleistet.

Funktioniert Fernberatung?

Die Forschung zeigt, dass Fernberatung genau gleich wirkt wie Präsenzberatung und wirkungsvoll ist, sie funktioniert also. Klar, man muss sich darauf einlassen, muss vielleicht etwas mehr erklären, was man gerade tut, den Prozess noch transparenter machen. Dass es gut geklappt hat, ist auch den Ratsuchenden zu verdanken. Ich habe die meisten als experimentierfreudig erlebt. Es machte auch nichts, wenn mal eine Panne passierte. Aber es gab auch Leute, die sich nicht online beraten lassen wollten oder ein Telefonat bevorzugten. Was ich bei der Fernberatung jedoch als Nachteil erlebe, ist die eingeschränkte Wahrnehmung des Gegenübers. Wenn ich meinen Klienten real gegenübersitze, dann erkenne ich natürlich mehr, kann Mimik, Gestik und auch Stimmlage besser lesen.

Dominierten während der Corona-Zeit andere Themen?

Eigentlich nicht. Im März und Anfang April allerdings, während des Lockdowns, waren Bewerbungen kein Thema. Die Leute beschäftigten sich in der Laufbahnberatung vermehrt mit grundsätzlichen Fragen: Wohin geht meine berufliche Reise? Was will ich? Was ist mir wichtig? Der Stillstand förderte das Nachdenken. Im Mai dann war das Bewerben wieder vermehrt Thema. Wir führten auch Online-Interview-Trainings durch, die sehr gefragt waren. Viele Firmen rekrutierten ja nur noch per Videointerview.

Wie ist es den Menschen psychisch ergangen?

Ein wichtiger Punkt. Ich sprach ihre Situation immer wieder an, und die Menschen waren dankbar, konnten sie über ihr Befinden im Homeoffice reden. Viele hatten bei allen Vorzügen dieser Arbeitsform Mühe, vor allem mit der damit einhergehenden Isolation.

Zur Person
Caroline Schultheiss ist Karriere- und Laufbahnberaterin beim Kaufmännischen Verband Zürich.

Inwiefern beeinflusst dies Laufbahnüberlegungen und -entscheide?

Sehr stark. Laufbahnberatung ist eine systemische und ganzheitliche Sache. Je nachdem, wie ich mich fühle, fallen Entscheide anders aus. Dies muss man berücksichtigen. Wenn ich unsicher bin, dann entscheide ich anders, als wenn ich Zugriff auf all meine Ressourcen habe und mich stark fühle.

Wie haben Sie die Arbeitsmarktsituation für Ihre Klientinnen und Klienten erlebt?

Zu Beginn der ersten Normalisierungsschritte war ich mit zwei Klienten in Kontakt, die gerade eine Stelle gefunden hatten. Aber was man schon merkte und immer noch wahrnimmt: Die Firmen sind mit Stellenausschreibungen zurückhaltend, abwartend. Das hat dazu geführt, dass Leute, die eigentlich einen Jobwechsel ins Auge fassten, ihr Handeln ebenfalls nicht überstürzten. Man wusste, es ist nicht einfach, eine neue Arbeit zu finden. Aber natürlich ist das auch typenabhängig. Relevant für einen Entscheid ist zudem der Leidensdruck.

Hat die Angst, aufgrund der Krise den Job zu verlieren, zugenommen?

Tendenziell ja. Auffallend war, dass einige Menschen in eine Schockstarre verfielen, gleichsam gelähmt waren.

Was raten Sie diesen Menschen?

Ins Handeln kommen, aktiv sein, das eigene Schicksal in die Hände nehmen. Wichtig ist auch, dass man sich ein Ziel setzt, so dass Handeln einfacher wird. In einer Beratung arbeiten wir an diesen Zielen und versuchen sinnvolle Strategien und kleine und erste Schritte aufzugleisen. Im Zentrum steht dabei die Reflexion. Die Corona-Krise hat dieses Nachdenken erleichtert, weil die Menschen tendenziell mehr Zeit hatten.

Wir haben alle das Hamsterrad verlassen und konnten in uns gehen.

Und man konnte Ziele und Massnahmen festlegen, weil man eben auch den Raum hatte, sich damit zu beschäftigen. Eine Lernende bekam Angst, weil sie lange keine Anschlusslösung hatte und dadurch in Passivität verfiel. Die gemeinsame Reflexion und das Festlegen von Zielen und Massnahmen ermöglichten ihr, in Aktion zu treten, über Firmen und Weiterbildungen zu recherchieren und sich zu bewerben. Dadurch gewann sie auch an Selbstvertrauen und fühlte sich besser.

«Wichtig ist auch, dass man sich ein Ziel setzt, so dass Handeln einfacher wird. In einer Beratung arbeiten wir an diesen Zielen und versuchen sinnvolle Strategien und kleine und erste Schritte aufzugleisen.»
Caroline Schultheiss

Reflexion ist offenbar zentral in einer Laufbahnberatung. Was ist wichtig, damit ich meine Wünsche erkenne und meinen Zielen näherkomme?

Sehr hilfreich ist das Formulieren von Gedanken, Zielen, Wünschen. Indem ich etwas niederschreibe, schaffe ich eine Verbindlichkeit. Das Ungefähre des Denkens nimmt sprachlich – oder auch zeichnerisch – Gestalt an. Und ich kann die Erkenntnisse mit nach Hause nehmen und damit weiterarbeiten. Die Konkretisierung verändert die Menschen, schafft Klarheit, oft Erleichterung.

Für die Laufbahnberatung ist Schreiben also ein gutes Mittel. Was empfehlen Sie den Ratsuchenden? Was sollen sie aufschreiben?

Tagebuch schreiben. Am Abend notieren: Was hat mir gefallen? Wie habe ich meinen Tag erlebt? Wo war ich erfolgreich? Was war weniger gut? Schreiben schärft die Wahrnehmung, ich erhalte Klarheit über das, was mich beschäftigt und was ich erlebe. Zudem habe ich – bei Erfolgsgeschichten – Zugriff auf meine Ressourcen. Ich kann auch berufliche und persönliche Visionen festhalten. Wo sehe ich mich in zwei oder in fünf Jahren. Schreiben ist ein starkes Mittel, das den Laufbahnprozess stützt – ein Prozess, der sich über mehrere Monate hinziehen kann. Und nochmals: Ziele sind wichtig, weil ich mich an ihnen orientieren kann. Das ist mit guten Gefühlen verbunden.

Aber man sollte sich nicht auf diese Ziele fixieren. Im Moment kann vieles von einem Tag auf den anderen ändern, wie wir gesehen haben. Stellen werden gestrichen, jemand verliert den Job. Wir müssen mit Unsicherheiten leben.

Das ist ganz wichtig. Wir sollten in der Lage sein, Unsicherheiten auszuhalten und uns an neue Begebenheiten anzupassen. Die Anpassungsfähigkeit wird zur Schlüsselqualifikation. Vieles wird sich immer wieder ändern.

Kann man das lernen?

Es ist eine Grundhaltung, die ich trainieren kann – auch im vermeintlich unspektakulären Alltag: einen neuen Arbeitsweg gehen, den Tagesrhythmus ändern, Rituale aufbrechen, im Geschäftsalltag mal eine andere Rolle einnehmen – heute hole nicht ich den Kaffee – und sich um Offenheit bemühen, sich bewusst auf Neues einlassen. Vielleicht sollte ich auch etwas kompromissbereiter sein. Es muss nicht alles sein, wie es immer war.

Das kann auch zu Erfolgserlebnissen führen, was sich gut anfühlt.

Ja, es stärkt das Selbstbewusstsein. Dabei können kleine Schritte hilfreich sein. Wer sich zum Beispiel weiterbilden will und lange nicht mehr in der Schule war, kann mit einem kurzen Seminar beginnen. Man probiert etwas Neues aus und überfordert sich aber nicht.

Anpassung oder Flexibilität gilt auch für jungen Menschen. Sie haben es auf dem Arbeitsmarkt schwieriger als auch schon.

Ich erlebe in meinen Beratungen beides. Einzelne haben Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, anderen gelingt das gut. Die Unternehmen sind ja auch bemüht darum, jungen Menschen eine Chance zu geben. Aber ja, Flexibilität ist sicher wichtig. Wenn es nach der Lehre mit der Stelle nicht klappt, weshalb sich nicht weiterbilden, eine Fremdsprache lernen, das tun, was möglich ist. Oder sich für eine gewisse Zeit mit einer Stelle begnügen, die nicht als Traumjob gilt. Entscheidend ist ohnehin, wie ich bewerte, was ich mache.

«Wenn es nach der Lehre mit der Stelle nicht klappt, weshalb sich nicht weiterbilden, eine Fremdsprache lernen, das tun, was möglich ist.»
Caroline Schultheiss

Laufen die jungen Menschen dabei nicht Gefahr, sich etwas ziellos weiterzubilden, im Sinne von: Ich mach jetzt einfach mal diesen Lehrgang, das kann mir irgendwann nützlich sein?

Der Transfer ist wichtig. Ich plädiere für eine zielorientierte Weiterbildung, die mir im Beruf nützlich ist. Reflexion, die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, den Wünschen und Interessen ist dabei unerlässlich. Und das Wissen um das breite Weiterbildungsangebot. Ich treffe immer wieder Ratsuchende, die sich für die Berufsmatur entscheiden, dabei wäre eine Weiterbildung zu einem höheren Berufsbildungsabschluss für sie geeigneter gewesen. Aber sie wissen nicht, dass diese Qualifikation existiert.

Es gibt Menschen, die bei Weiterbildungsentscheiden nicht die berufliche Verwertbarkeit ins Zentrum setzen, sondern ihre Leidenschaft für ein Fachgebiet oder eine Tätigkeit.

Das ist der Idealfall, weil der Weiterbildungsentscheid intrinsisch motiviert ist. Ich bin sicher, dass sich das in den meisten Fällen auszahlt. Vielleicht mündet die Weiterbildung nicht in einen Beruf, sondern in ein Hobby oder einen Nebenjob, was auf jeden Fall sinnstiftend ist. Das wirkt sich, auch in beruflich wenig erfüllenden Zeiten, positiv auf die Befindlichkeit aus. Ich habe immer «etwas anderes», bin breiter abgestützt.

Es gibt auch kritische Stimmen. Ausbildung und Weiterbildung müssen sich ausnahmslos auszahlen, heisst es.

Natürlich ist der Arbeitsmarkt bei Ausbildungs- und Weiterbildungsentscheiden zu berücksichtigen. Und doch sollte das Interesse im Vordergrund stehen und nicht die ökonomische Verwertbarkeit. Man darf nicht unterschätzen, wie bitter es sein kann, wenn man nach zwanzig Berufsjahren zurückblickt und merkt, dass man sich damals für einen falschen Weg entschieden hat.

Die Coronakrise gilt als Zäsur. Die Arbeitswelt hat sich verändert. Wir arbeiten im Homeoffice, haben zum Teil mehr Zeit, müssen mit Unsicherheiten leben. Hat auch ein Umdenken stattgefunden? Mehr Reflexion, mehr Sinn, raus aus dem Hamsterrad?

Die Zeit, die Menschen während der Krise hatten, hat bei vielen zu einem Umdenken geführt. Sie merkten, was ihnen Freiheit bringen kann. Sie fragten sich: Will ich meine ganze Zeit fast ausschliesslich für einen Beruf verwenden, 150 Prozent arbeiten? Gibt es nicht anderes im Leben, was erfüllender ist. Eine österreichische Wissenschaftlerin hat in ihren Forschungen aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass man neben dem Beruf andere Lebensbereiche pflegt. Sie definiert fünf solcher Bereiche. Wer in seinem Leben auf drei dieser Lebensbereiche fokussiert, befindet sich in gutem seelischem Gleichgewicht, ist zufriedener und läuft weniger Gefahr, in eine Krise zu geraten, wenn es im Beruf schlecht läuft. Ich kann das aufgrund meiner Beratungserfahrung nur bestätigen. Menschen, die neben dem Beruf ein intensives Hobby verfolgen, sind ausgeglichener und gegenüber Krisen resistenter. Eine ähnliche Erfahrung machen Portfolio-Worker. Sie sind durch ihre berufliche Diversifizierung unabhängiger.

Die Sinnfrage wird wichtiger.

Das merke ich in meiner täglichen Arbeit. Die Frage ist nicht nur, was und wie ich arbeiten will, sondern: Wie will ich leben? In der Lebensmitte gewinnt diese Frage nochmals an Bedeutung. Das Erkennen der Sinnfrage allein reicht aber nicht aus. Wenn ich merke, dass mir eine Lebensform zusagt – zum Beispiel Teilzeitarbeit oder weniger Verantwortung tragen – oder ich etwas nicht mehr will, dann muss ich auch dafür einstehen. Manchmal frage ich meine Klientinnen und Klienten, ob sie ihre Anliegen gegenüber der Vorgesetzten formuliert hätten. Viele verneinen das. Dabei sind die meisten Unternehmen unterdessen sehr offen gegenüber Veränderungswünschen ihrer Mitarbeitenden. Aber man muss diese Anliegen jedoch selber ansprechen.

Veröffentlicht am: 30.6.2020

«Die Frage ist nicht nur, was und wie ich arbeiten will, sondern: Wie will ich leben? In der Lebensmitte gewinnt diese Frage nochmals an Bedeutung.»
Caroline Schultheiss

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Autor

  • Rolf Murbach

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