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«Wir müssen über psychische Gesundheit reden»

Junge sind von Corona besonders betroffen. Roger Staub, Geschäftsleiter von Pro Mente Sana, und Stefan Büchi, Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg, plädieren für mehr Beachtung der psychischen Gesundheit.

Welche Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit haben Sie wahrgenommen?

Roger Staub: Wir haben nach dem ersten Lockdown unser Beratungsangebot sofort ausgebaut, und es wurde genutzt. Im Vordergrund standen Ängste, Angst vor dem Virus, Angst, sich anzustecken. Die Krise wirkte als Trigger. Besonders betroffen waren Menschen, denen es schon vor der Pandemie psychisch schlecht ging. Über den Sommer hat sich die Lage dann entspannt. Seit der zweiten Welle dominieren Existenzängste, die Angst den Job zu verlieren zum Beispiel.

Geht es den Menschen generell schlechter als früher?

Roger Staub: Insgesamt nein. Studien zeigen, dass nach wie vor vier von fünf sagen: Mir geht es gut. Ausgenommen sind aber die Jugendlichen, denen es psychisch schlechter geht als vor der Krise. Wir hatten das Glück, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern auch während des Lockdowns noch relativ viele Freiheiten behielten.

Was bedeutete der Ausbruch der Pandemie für die Privatklinik Hohenegg?

Stefan Büchi: Wir haben eine erstaunliche Erfahrung gemacht. Wir hatten noch nie so viele zufriedene Patientinnen und Patienten wie während des ersten Lockdowns. Ich fragte mich, womit das zu tun hatte. Während das Leben ausserhalb der Klinik in der Wahrnehmung der Patienten von grosser Unsicherheit geprägt war, fühlten sie sich bei uns sicher. Zudem konnte man in der freien Natur spazieren gehen und kam in den Genuss von gutem Essen. Vergleiche wirken sich auf das Wohlbefinden aus. Wenn es den Menschen ausserhalb der Klinik tendenziell schlecht geht, fühlen sich viele in der Klinik besser – und umgekehrt. Als der Lockdown zu Ende war, tauchten wieder vermehrt Probleme auf.

Während der zweiten Welle und danach wurde es dann schwieriger. Personal und Patienten waren deutlich angespannter. Es kam vermehrt zu Erschöpfungsdepressionen. Man fragte sich: Wie lange dauert diese Krise noch? Auch wir stellen fest, dass die Pandemie jüngere Menschen stärker trifft. Der Altersdurchschnitt bei Eintritt ist zurzeit um fünf Jahre tiefer als vor Corona.

«Studien zeigen, dass nach wie vor vier von fünf sagen: Mir geht es gut. Ausgenommen sind aber die Jugendlichen, denen es psychisch schlechter geht als vor der Krise.»
Roger Staub

Weshalb betrifft Corona die jungen Menschen besonders hart?

Roger Staub: Die ganze Freizeit- und Jugendkultur war eine Zeitlang eingestellt. Kaum Sport, keine Treffen in Gruppen. Das fehlte den Jungen und schadete ihrer psychischen Gesundheit. Man kann das nicht einfach digital ersetzen. Hinzu kommt die Sorge um die berufliche Zukunft: Wie viel Wert wird mein «Corona»-Berufsabschluss, mein «Corona»-Maturitätszeugnis sein?

Stefan Büchi: Das Wohlbefinden von Jugendlichen hat sich schon vor der Pandemie verschlechtert. Eine Longitudinalstudie aus England hat gezeigt, dass sich die psychische Gesundheit junger Menschen von 2005 bis 2015 markant verschlechtert hat: Depressionen und Angstzustände haben zugenommen. Die Digitalisierung hat wohl zu diesem Ergebnis beigetragen. 25 Prozent der Jugendlichen wiesen zudem schon vor der Pandemie einen eigentlichen Smartphone-Abusus auf. Dieser hat sich während der Krise mit Sicherheit verstärkt. Besonders besorgniserregend ist: Suizidgedanken von Jugendlichen haben in der westlichen Welt epidemisch zugenommen. Wir sehen das auch bei uns – die jugendpsychiatrischen Abteilungen sind in der Schweiz komplett ausgelastet.

Für das Bundesamt für Gesundheit schien die psychische Gesundheit kein Thema.

Roger Staub: Mich ärgerte das. Die Massnahmen zur Pandemiebekämpfung waren ausgesprochen technokratisch und richteten diesbezüglich einen enormen Schaden an. Der Bundesrat und das BAG aber taten so, als würde sie das Thema nichts angehen und delegierten es an die Kantone. Wir werden uns von Pro Mente Sana bemühen, dass künftig auch die psychische Gesundheit auf die politische Agenda kommt.

Was unternehmen Sie?

Roger Staub: Wir reden mit Parlamentariern. Nichts gegen testen, aber wenn der Bund für seine Teststrategie eine Milliarde spricht, muss doch auch Geld für die psychische Gesundheit vorhanden sein. Es braucht auch hier dringend Massnahmen, damit wir Ressourcen der Bevölkerung stärken und Menschen in psychischen Nöten unterstützen können. Wenn wir dadurch Depressionen verhindern können, die in Klinikaufenthalte münden, dann zahlt sich das aus. Im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz führen wir seit 2019 zusammen mit allen Deutschschweizer Kantonen die Kampagne «Wie geht’s dir?», aber wir erreichen damit die Bevölkerung erst zum Teil, weil das Budget zu knapp ist für eine umfassende Kampagne und für eine bessere Präsenz auf Social Media.

«Das Wohlbefinden von Jugendlichen hat sich schon vor der Pandemie verschlechtert. Eine Longitudinalstudie aus England hat gezeigt, dass sich die psychische Gesundheit junger Menschen von 2005 bis 2015 markant verschlechtert hat: Depressionen und Angstzustände haben zugenommen.»
Stefan Büchi

Menschen sollen sagen, wie es ihnen geht?

Roger Staub: Ja, es ist wichtig, dass junge und natürlich auch ältere Menschen über ihre Gefühle reden und dass Menschen einander zuhören, Interesse für die Nöte des Gegenübers zeigen. Aber über die eigene psychische Gesundheit mögen viele nicht reden, das ist in vielen Kreisen tabu. Damit man über Gefühle reden kann, braucht es eine Sprache. Für die Kampagne haben wir daher eine App entwickelt, die Menschen unterstützt, ihre Gefühle zu formulieren: Das Alphabet der Gefühle.

Stefan Büchi: Die Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit und die Fähigkeit, diese Wahrnehmung zu verbalisieren, ist zentral für die psychische Gesundheit und trägt zur Prävention bei. Diese Art von Achtsamkeit und Kommunikation wird in unserer Gesellschaft und in der Schule leider viel zu wenig eingeübt. Vorurteile und Tabuisierung verstellen den Blick auf die psychische Befindlichkeit. Zudem würde das Reden der bisweilen fatalen Einsamkeit der Menschen entgegenwirken. Einsamkeit gehört zu den relevantesten negativen Faktoren, die Gesundheit beeinflussen. Sie hat einen grösseren Impact als Rauchen, Alkohol oder Diabetes. Man muss die Menschen zusammenbringen, denn Beziehung und Austausch sind gesund und stärken das Immunsystem. Es ist tatsächlich erstaunlich, dass dies, wenn wir uns die Covid-Massnahmen und unseren Umgang mit der Pandemie vor Augen halten, bis im Frühling so wenig thematisiert wurde.

Bei Menschen in Not, die nicht reden, können psychische Krankheiten schwer verlaufen. Möglicherweise sind diese Menschen suizidgefährdet. Sie plädieren für Erste Hilfe für psychische Gesundheit und bieten Kurse für Laien an.

Roger Staub: Menschen mit grossen Problemen, die sich niemandem anvertrauen können, laufen in der Tat Gefahr, dass sie zu spät auf ihre Not reagieren und allenfalls eine Klinik aufsuchen müssen. Oftmals liesse sich das vermeiden, wenn sich Angehörige, Freunde, Bekannte ihnen zuwenden würden. Aber die meisten sind überfordert, wagen es nicht, ihr Gegenüber auf die psychische Belastung oder vermutete Suizidgedanken anzusprechen. Dabei wäre gerade das sehr wichtig. In unseren Kursen «ensa – Erste Hilfe in 5 Schritten» lernen die Teilnehmenden, wie man Erste Hilfe leistet. Nach Abschluss des Kurses erhalten sie ein Zertifikat. Wir wollen, dass möglichst viele kompetent werden in dieser Art von Erster Hilfe. Wenn man eine psychische Krankheit frühzeitig erkennt und Betroffene unterstützt, kann vielleicht ein Klinikaufenthalt vermieden werden, in bestimmten Fällen auch eine später drohende IV-Berentung. Wenn die über 80%, denen es gut geht, auf die 20%, denen es nicht gut geht zugehen und Erste Hilfe anbieten, würde es uns als Gesellschaft besser gehen.

Sie setzen in der Privatklinik Hohenegg bei suizidgefährdeten Menschen ebenfalls auf Prävention und ein spezielles Tool.

Stefan Büchi: Wir haben dieses Tool, PRISM-S, entwickelt. Beim Einsatz kann ein Therapeut, eine Therapeutin gemeinsam mit dem Betroffenen Lebenssituationen bildlich und einfach veranschaulichen und eine mögliche Suizid-Gefährdung erkennen. Die Arbeit mit diesem Werkzeug erleichtert die Kommunikation über Suizidgedanken, zeigt im therapeutischen Verlauf Entwicklungen auf und schafft ein gemeinsames Verständnis. Es wird nun ab diesem Jahr im Rahmen von «SERO», einem von Gesundheitsförderung Schweiz mit 1.5 Millionen Franken unterstützten Projekt zur Suizidprävention im Kanton Luzern, sowie Nid- und Obwalden, eingesetzt.

Zu den Personen

Roger Staub ist Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. Stefan Büchi ist Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg.

Veröffentlicht am: 01.06.2021

«Die Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit und die Fähigkeit, diese Wahrnehmung zu verbalisieren, ist zentral für die psychische Gesundheit und trägt zur Prävention bei.»
Stefan Büchi

Erste Hilfe für psychische Gesundheit

Jede zweite Person hat einmal in ihrem Leben psychische Probleme. Neun von zehn kennen jemanden, der psychische Probleme hat, und würde gerne helfen.

Kurse «ensa – Erste Hilfe für psychische Gesundheit»: ensa ist die Schweizer Version des australischen Programms Mental Health First Aid und bietet seit 2019 Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit an. Laien lernen in diesen Kursen, Erste Hilfe zu leisten, wenn Personen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld psychische Probleme oder Krisen durchleben. Sie unterstützen, bis professionelle Hilfe übernimmt. Gleichzeitig leisten Ersthelferinnen und Ersthelfer einen Beitrag, um Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Problemen in unserer Gesellschaft abzubauen.

Es ist wichtig, psychische Schwierigkeiten bei Mitmenschen zu erkennen und zu reagieren. Denn je länger man wartet, desto schlimmer werden Probleme. Ersthelferinnen und Ersthelfer lernen das Basiswissen über psychische Probleme, kennen die Schritte der Ersten Hilfe und können diese anwenden.

ensa-Kurse werden schweizweit als Präsenzkurs oder Webinar angeboten. Sie werden von Instruktorinnen und Instruktoren durchgeführt, die von Pro Mente Sana geschult worden sind. Es gibt auch Kurse, die auf ein spezifisches Publikum zugeschnitten sind, zum Beispiel Kurse für Personen, die mit Jugendlichen arbeiten, oder Kurse für Führungskräfte.

Ratgeber Gesundheit

Der Kaufmännische Verband hat zusammen mit Swica einen umfassenden Ratgeber Gesundheit herausgegeben. Die Publikation richtet sich an Führungskräfte und Angestellte und beinhaltet die wesentlichen Themen rund um die Gesundheit am Arbeitsplatz.

Die Gesundheit ist eine unserer wichtigsten Ressource und spielt eine massgebende Rolle für unser Wohlbefinden und unser Leistungsvermögen. Theoretisch wissen die meisten von uns, wie sie ihre Gesundheit erhalten und fördern. Sei es durch eine ausgewogene Ernährung, viel Bewegung, wenig Alkohol und Stress. Da wir einen Grossteil unserer Zeit bei der Arbeit verbringen, ist es wichtig sich nicht nur im Privaten mit seiner Gesundheit auseinanderzusetzen, sondern das Thema ganzheitlich zu betrachten. Ein unausgewogenes Verhältnis der eigenen Ressourcen und Belastungen am Arbeitsplatz können die Gesundheit und die Motivation langfristig gefährden.

Gesunde Mitarbeitende sind ein entscheidender Faktor für den Unternehmenserfolg. Weshalb sich auch Betriebe mit der Gesundheit ihrer Mitarbeitenden vertieft auseinandersetzen sollten. Der neue Ratgeber des Kaufmännischen Verbands soll Interessierte bei der Umsetzung mit Tipps und Tricks unterstützen. Er richtet sich an Führungskräfte und Angestellte und beinhaltet die wesentlichen Themen rund um die Gesundheit am Arbeitsplatz. Der Ratgeber ist in Zusammenarbeit mit Swica entstanden.

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Autor

  • Rolf Murbach

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