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Auf dem Weg zu weniger Ungleichheit zwischen den Geschlechtern?

Weiterbildung bildet den besten Schutz, um in der Arbeitswelt nicht ins Abseits zu geraten. Doch beim Zugang zu ihr stehen Frauen während ihrer Laufbahn vor zahlreichen Hindernissen, erklärt Isabelle Chappuis, Expertin für die Zukunft der Arbeit.

Zunächst einmal: Was sind die Aufgaben einer Expertin für die Zukunft der Arbeit?

Da wir über keine Kristallkugel verfügen, um die Zukunft vorherzusagen, können wir keine präzisen Voraussagen machen. Ausserdem: DIE Zukunft gibt es nicht. Es gibt zahlreiche mögliche Zukunftsszenarien, die entweder eintreten oder nicht eintreten können. Die beiden letzten Jahre haben uns gezeigt, dass die Zukunft keine geradlinige Fortsetzung der Gegenwart ist und dass einschneidende Veränderungen ganz plötzlich eintreten können.

Es lassen sich jedoch Tendenzen und bereits erkennbare leise Vorzeichen beobachten. Um relevant zu sein, müssen Kompetenzen in ihrem jeweiligen Kontext nutzbar sein. Wer also wissen möchte, welche Kompetenzen in Zukunft gefragt sein werden, muss sich für das zukünftige Umfeld interessieren, insbesondere in gesellschaftlicher, ökologischer und technologischer Hinsicht, und darüber nachdenken, wie die menschlichen Tätigkeiten in diesem Umfeld ihre Relevanz behalten können. Das ist, was mich antreibt und woran ich arbeite.

Bei Ihren Untersuchungen haben Sie sich hauptsächlich mit den kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Berufen befasst: Denken Sie, dass diese Berufe besonders stark von den Veränderungen betroffen sind?

Ich komme aus dem Wirtschaftsbereich und habe mich daher natürlicherweise in erster Linie mit der Entwicklung der kaufmännischen Berufe, insbesondere der Buchhaltung und des HR befasst. Doch mittlerweile sind alle Bereiche dem Wandel unterworfen. Meine Tochter, die an der ETH Zürich Agronomie studiert, hat beispielsweise während ihrem ersten Praktikum gelernt Kühe zu melken und Traktor zu fahren. Als Teil ihrer Masterarbeit hat sie von Satelliten erfasste landwirtschaftliche Daten in Python und R codiert, um Smart Farming betreiben zu können! Die Berufe entwickeln sich weiter und mit ihnen die erforderlichen Kompetenzen. Weiterbildung bildet daher der beste Schutz, um nicht ins Abseits zu geraten. In einer sich schnell verändernden Welt kommt es vor allem auf bereichsübergreifende Kompetenzen an, die kontextunabhängig und von einem Beruf auf den anderen übertragbar sind.

Ist das Bildungssystem Ihrer Meinung nach gut auf die Veränderungen vorbereitet?

Ich glaube, dass im Grunde niemand wirklich für diese Veränderungen bereit ist. Wir müssen mit dieser Ungewissheit leben. Wir wissen hingegen, dass es ein Trugschluss ist, eine Berufsausbildung zu absolvieren und dann ein Recht auf Beschäftigung in dem betreffenden Bereich zu erwarten. So wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt, erfordert er lebenslanges Lernen. Telemigration (die Möglichkeit, eine Tätigkeit ins Ausland zu delegieren), Gig Economy (unterschiedliche Einkommensquellen) und die steigende Lebenserwartung bringen unser Gleichgewicht ins Wanken. Das Leben in drei Phasen – Ausbildung, Arbeit, Ruhestand – entspricht nicht mehr der neuen Realität: Was wir in den ersten zwanzig Jahren unseres Lebens lernen, reicht nicht mehr aus für die nächsten siebzig Jahre.

Die Ausbildung muss so angelegt sein, dass von Anfang an bereichsübergreifende Kompetenzen erworben und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Was die Fachkompetenzen betrifft, wird man sich mit regelmässiger Weiterbildung auseinandersetzen müssen. In einer Theatermetapher ausgedrückt: Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung ist aufgehoben: Man kann sich heute weiterbilden, wo man will, wann man will und wie man will. Diese neue Realität sollte von den Wirtschaftsakteuren unterstützt werden. Zudem wird die Ausbildung auch ausserschulisch stattfinden. Die so erworbenen Kenntnisse müssen formal bestätigt werden können, um HR-Verantwortlichen konkrete Anhaltspunkte zu liefern, auf die sie sich stützen können.

Sollte die öffentliche Hand angesichts der Herausforderungen mehr in die Weiterbildung investieren?

Im Gegensatz zur Grundbildung wird die Weiterbildung nicht von der öffentlichen Hand finanziert. Das ist ein Problem. Derzeit liegt die Verantwortung fast ausschliesslich bei der Einzelperson und ihrem Arbeitgeber. Ausserdem wird die Möglichkeit zur Weiterbildung oft nicht jenen geboten, die sie am dringendsten benötigen würden. Es gibt den berühmten Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Diejenigen, die bereits besitzen, verstärken ihre dominierende Position, indem sie noch mehr bekommen. Dieser Effekt benachteiligt häufig Frauen. Es ist eine Tatsache, aber man kann ein Unternehmen nicht daran hindern, zu entscheiden, wem es eine Weiterbildung finanzieren will.

Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, wäre eine Sozialversicherung in Form einer vierten Säule denkbar, die ähnlich wie die erste und zweite Säule finanziert wird und die der Weiterbildung gewidmet ist. So könnten jene, die sich dringend weiterbilden müssen, dies auch tun, bevor sie arbeitslos werden. Hier besteht leider ein Ungleichgewicht zwischen der Schnelligkeit der disruptiven Entwicklungen aufgrund des technologischen Fortschritts und der Langsamkeit, mit der wir Gesetze erlassen, um auf diese Entwicklungen zu reagieren.

«Die Zukunft ist keine geradlinige Fortsetzung der Gegenwart und dass einschneidende Veränderungen ganz plötzlich eintreten können.»
Isabelle Chappuis über zukünftige Entwicklung:

Der Arbeitsmarkt ist immer noch stark von Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen geprägt. Ist die Weiterbildung ein geeignetes Mittel, um dagegen vorzugehen?

Sollte es, ist aber leider nicht unbedingt so. Was die Grundbildung betrifft, sind Frauen nicht schlechter ausgebildet als Männer, es ist sogar eher umgekehrt. Aber herkömmliche Lebensentwürfe und kulturelle Voreingenommenheit bestimmen unseren Lebensstil und dieser bleibt sehr konservativ. Heute sind immer noch 25% der Bevölkerung der Meinung, dass die Frau in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes zu Hause bleiben sollte. Vor dreissig Jahren waren es noch 70%; es gibt durchaus eine positive Entwicklung. Aber für eine Frau im gebärfähigen Alter ist es derzeit immer noch schwieriger, sich weiterzubilden, um sich beruflich weiterzuentwickeln, als für einen Mann. Und da Führungspositionen immer noch überwiegend von Männern besetzt sind, sind es oftmals die Männer, denen qualitativ hochwertige Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden.

Es gibt also Ungleichheiten in der Weiterbildung wie auch in der Arbeitswelt. Was könnte Ihrer Meinung nach dazu beitragen, dies zu ändern?

Es gibt mehrere Hebel, aber aus meiner Sicht ist die Familienpolitik der wichtigste. Es bräuchte nachhaltige staatliche Unterstützung in der Kinderbetreuung. Doch der Staat kümmert sich erst ab der obligatorischen Schulzeit darum. Davor gibt es nur wenige und teure Betreuungsmöglichkeiten, was weder die Fortsetzung einer Erwerbstätigkeit fördert noch Frauen dazu ermutigt, sich kontinuierlich weiterzubilden.

Technische Berufe ziehen tendenziell immer noch weniger Mädchen an als Jungen. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um in diesem Bereich eine stärkere Durchmischung der Geschlechter zu erreichen?

Es gibt viele Programme, die Mädchen dazu ermutigen, eine technische Ausbildung zu beginnen. Die EPFL organisiert zum Beispiel Robotik-Camps für Mädchen. Ich selbst habe meine älteste Tochter mehrere Sommer hintereinander dorthin geschickt. Heute ist sie Ingenieurin. Hier wird viel Basisarbeit geleistet. Es braucht Zeit, aber es funktioniert.

Ich denke auch, dass Rollenvorbilder von grundlegender Bedeutung sind: Frauen, die in eher männlich dominierten Bereichen wie dem Ingenieurwesen arbeiten, sollten dies nach aussen sichtbar machen. Das gilt auch für Männer, die in Kindertagesstätten oder Pflegeheimen tätig sind. So können sich die Rollenbilder weiterentwickeln. Als Mutter habe ich mich sehr ins Zeug gelegt. Einerseits, um mich beruflich weiterzuentwickeln, andererseits aber auch, weil es mir wichtig war, meinen Töchtern und meinem Sohn zu zeigen, dass ihre Mutter genauso Karriere machen kann wie ihr Vater. Selbst wenn ich auch zu Hause war, um das Familienleben zu managen. Es ist jedoch klar, dass dies mit viel Aufwand verbunden ist.

«Es bräuchte nachhaltige staatliche Unterstützung in der Kinderbetreuung. Doch der Staat kümmert sich erst ab der obligatorischen Schulzeit darum.»
Isabelle Chappuis über die Hebel in der Familienpolitik:

Zur Person

  1. Isabelle Chappuis verfügt über einen Master in Wirtschaft der Universität St. Gallen und ist Expertin für Weiterbildung. Ihre Arbeit befasst sich mit der Zukunft der Arbeit und darüber, welche Rolle der Mensch in ihr spielt. Sie war während fast 15 Jahren in verschiedenen leitenden Positionen im Bereich der Weiterbildung an der Universität Lausanne tätig und gründete anschliessend das Swiss Center for Positive Futures an der Wirtschaftsfakultät der Universität Lausanne.

Autor:in

  • Dominique Nussbaum

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