Seitennavigation & Suche

Mit Leidenschaft am Werk

    Lebenslanges Lernen ist eine Haltung. Neben formaler Weiterbildung gehören Neugier, Veränderungsbereitschaft und Unternehmergeist dazu.

    19.08.2020

    Lebenslanges Lernen beschreibt in der Theorie ein Lebenskonzept, das Menschen befähigen soll, sich während ihrer gesamten Lebensspanne weiterzuentwickeln. Dabei geht es nicht nur darum, Wissenslücken mit Hilfe von formalen Instrumenten – wie zum Beispiel anerkannten Weiterbildungen – auszufüllen. Vielmehr soll unter Berücksichtigung des individuellen Rhythmus durch bewusste und unbewusste Informationsaufnahme organisches Wachstum erzeugt werden.

    Reinhard Willutzki, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sagt dazu: «Es geht nicht darum, sich immer wieder neu zu erfinden, sondern wie eine Pflanze weiter zu wachsen.» Der Mediziner erklärt weiter: «Lernen ist ein Prozess, bei dem das Gehirn neue mit alten Informationen verknüpft. Explizit kann der Mensch zum Beispiel Dinge lernen wie Sprache, operative Tätigkeiten oder mathematisches Rechnen. Unbewusstes Lernen dagegen zielt oft auf die emotionale Intelligenz ab.» Ob bewusst oder unbewusst: Lernen heisst immer auch: sich verändern. Verändern ist denn auch der Schlüsselbegriff, wenn es um die Frage geht, weshalb lebenslanges Lernen wichtig ist. «Die Welt verändert sich stetig. Als lebendes Wesen muss man sich dieser Welt anpassen, sonst hat man Schwierigkeiten, darin zurechtzukommen», so Willutzki.

    Ein Feuer entfachen

    Schon der griechische Schriftsteller Plutarch wusste vor mehr als zweitausend Jahren: «Der Geist des Menschen ist nicht nur ein Gefäss, welches gefüllt, sondern ein Feuer, das entfacht werden will.» Eine Aussage, die Reinhard Willutzki unterschreiben würde. «Ein Feuer, das entfacht wird, hat sein eigenes Leben und Autonomie. Das erwartet man auch von einem Menschen: eine eigene Meinung und einen autonomen Standpunkt zu haben». Der Psychiater ist überzeugt, dass die Motivation zu lernen mit zunehmendem Alter intrinsischer wird. Wer sich in jungen Jahren keine lernbereite Haltung aneignet, wird sich im Erwachsenenalter seltener intrinsisch motiviert weiterbilden. Da sich diese Haltung aber nicht von alleine entwickelt, ist die extrinsisch motivierte Teilnahme an institutionalisierten Ausbildungen für die allermeisten Menschen unverzichtbar.

    Das Verständnis von lebenslangem Lernen geht für die 25-jährige Sängerin und Studentin Liliane Costa weit über institutionalisierte Ausbildungen hinaus. So ist sie davon überzeugt, dass institutionalisiertes Lernen nur ein kleiner Teil des lebenslangen Lernens darstellt. Für sie beginnt dieser Prozess nämlich schon mit der Geburt und endet erst mit dem Tod. Zudem teilt sie das Lernen in zwei unterschiedliche Kategorien: die bewusste und die unbewusste Aneignung von Wissen. Innerhalb des bewussten Lernens unterscheidet sie weiter zwischen autodidaktischem Lernen – wie dem Lesen eines Fachbuchs oder dem Schauen eines Dokumentarfilms – und dem «Fremd-Lernen». Letzteres kennt Costa vor allem von ihrem Studium an der Zürcher Hochschule der Künste. Der Mensch lerne aber nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst, erklärt sie weiter. Oder anders ausgedrückt: «Der Mensch lernt niemals nicht.» Jeden Tag sei er verschiedensten Eindrücken ausgesetzt, die er aufnimmt, verarbeitet und unbewusst als Wissen speichert.

    Corinne Marrel, Fachverantwortliche Höhere Berufsbildung beim Kaufmännischen Verband Schweiz, beschäftigt sich unter anderem mit lebenslangem Lernen im Kontext des Berufslebens. Die stetige Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen spiele eine wichtige Rolle. Es gebe viele Arten zu lernen, sagt sie: «Klassisch in einer Aus- oder Weiterbildung, aber auch on the job oder informell, zum Beispiel über private Aufgaben.» Auch wenn eine Zeit lang keine Weiterbildung anstehe, sei es wichtig, neugierig zu bleiben. «Man sollte das Lernen nicht verlernen.» Zudem hat Marrel festgestellt, dass immer mehr Arbeitnehmende nicht mehr den klassischen Werdegang – Ausbildung/Arbeit/Pension – einschlagen. «Lebensphasen haben keine feste Reihenfolge mehr. Ausbildungen und Weiterbildungen sind heute in allen Lebensphasen, ungeachtet des Alters, ein Thema.»

    Berufe verändern sich

    Als Weiterbildungsberaterin macht Corinne Marrel die folgende Beobachtung: «Vor allem in den dem technologischen Wandel stark ausgesetzten Branchen verändern sich die Berufsprofile laufend und werden häufig auch anspruchsvoller, weshalb ein steigender Bedarf an Weiterbildungen festzustellen ist.» Dies sei eine Entwicklung, die auch Schattenseiten in sich berge. Ohne Nachweis von Qualifikationen – zum Beispiel in Form eines Diploms – steige das Risiko, auf dem Arbeitsmarkt den 

    Anschluss zu verlieren. Um dies zu verhindern, plädiert Corinne Marrel für ein gesellschaftliches Umdenken. «Die Verantwortung sich weiterzubilden, soll nicht nur auf den Schultern der Arbeitnehmenden lasten, sondern im Austausch zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern gemeinsam wahrgenommen werden. Die Politik hat die wichtige Aufgabe, die geeigneten Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.» Ferner sollen Arbeitgeber mehr Flexibilität aufbringen und die Angestellten unabhängig ihres Alters oder der aktuellen Lebensphase in ihrer beruflichen Weiterentwicklung unterstützen.

    Simone Kühn, COO und HR-Verantwortliche des Jungunternehmens Movu, sagt, dass solche an sich wünschenswerten Formen der Flexibilität gerade als junges und noch nicht profitables Unternehmen schwierig umzusetzen seien. «Mitarbeitende bei Weiterbildungen finanziell zu unterstützen, ist schlicht zu teuer». Da ihr die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden aber enorm am Herzen liege, habe sie

    vor ein paar Jahren damit begonnen, alternative Angebote auszuarbeiten. «Wir stellen unseren Mitarbeitenden zum Beispiel kostenlos persönliche Coaches zur Verfügung oder ermöglichen ihnen an fachspezifischen Messen sowie internen Förderprogrammen teilzunehmen.» Solche Initiativen waren gemäss Kühn bisher sehr erfolgreich, zumal die Mitarbeitenden durch die Teilnahmemöglichkeit einen starken Motivationsschub erlebten. «Motivierte Mitarbeitende widerspiegeln sich im Geschäftserfolg – eine Win-Win-Situation.»

    Als Psychiater weiss Reinhard Willutzki: «Jeder Mensch hat Träume und Wünsche. Dies hört auch im Alter nicht auf.» Deswegen ist er sich sicher: «Lernen hat kein Verfalldatum». Ein gutes Beispiel dafür ist Christoph Oeschger. Die letzten zwanzig Jahre war der studierte Betriebswirtschaftler in einem Schweizer Medizinkonzern als Manager tätig. Im Alter von 64 Jahren hat er sich entschieden, als Kunstausstellungsmacher eine eigene Firma zu gründen. «Natürlich hätte ich mich pensionieren lassen können. Doch Stagnation liegt nicht in meiner Natur», sagt der heute 66-Jährige. Es sei keine leichte Aufgabe gewesen, sich als Einzelunternehmer in der schnelllebigen Kunstwelt zu etablieren. Doch genau darin liege die Herausforderung und der unternehmerische Reiz für ihn. «Es ist die Liebe zur bildenden Kunst und das Suchen beziehungsweise Entdecken von Neuem, was meine intrinsische Motivation permanent stärkt.»

    Veröffentlicht am: 19.8.2020

    Autor

    • Jasmine Oeschger

    Beliebte Inhalte