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Lieber Gegenwartsmensch, kannst du dich noch erinnern, als ihr euch den Kopf über die künstliche Intelligenz zerbrochen habt? Sei beruhigt, es ist alles gut gekommen. Sie hat die Weltherrschaft nicht ergriffen und ihre Nutzung ist so normal geworden wie in deiner Zeit die E-Mail. Aber lass uns im Detail anschauen, wie uns die digitale Assistenz heute im Alltag unterstützt.

[Post aus der Zukunft] von Dr. Joël Luc Cachelin

Eng umschlungen: Menschen und Maschinen

Es stimmt, die KI weicht heute nicht mehr von unserer Seite. Sie hilft uns Geld anzulegen, Hotels zu finden, die genau unserem Geschmack entsprechen, und in manchen Fällen nutzen Trauernde sie sogar, um mit geliebten Verstorbenen zu sprechen. Natürlich ist auch unser Arbeitsalltag von der Zusammenarbeit mit KI geprägt. Wir nutzen sie übrigens noch immer für dieselben Dinge wie 2025: um zu übersetzen, Bilder und Texte zu generieren, uns Feedback zu geben, Daten zu bearbeiten, uns technische Unterstützung zu holen und uns vor wichtigen Gesprächen und in schwierigen Situationen zu coachen. 

Vielleicht fragst du dich gerade, ob dieser Brief von mir oder meiner KI-Assistenz verfasst wurde. Aber macht es wirklich einen Unterschied? 

Wir arbeiten heute so eng mit KI zusammen, dass man kaum noch erkennen kann, wer für welche Arbeitsschritte verantwortlich ist. Rückblickend lässt sich kaum noch feststellen, wer welchen Gedanken zuerst hatte, wer eine Überarbeitung angeregt hat. Aber bevor du dich zu früh freust, unsere Arbeitswelt ist kein Schlaraffenland. Dass wir so mit KI zusammenarbeiten, heisst nicht, dass sie alles für uns tut. Sie ist weder unfehlbar noch für jede Aufgabe gut geeignet. Viele von uns beschreiben die Arbeit im Büro sogar als viel anstrengender als früher, weil die KI schonungslos genau ist und uns endlos auf Schwächen und Mängel hinweisen. Sie findet immer etwas, das wir noch verbessern könnten.

Eng umschlungen II: Arbeiten und Lernen 

Für herausragende Lösungen braucht es eingespielte Mensch-KI-Teams. Mensch und Maschine treiben sich in der engen Zusammenarbeit gegenseitig zu Spitzenlösungen an. Das funktioniert deshalb so gut, weil uns die digitale Assistenz in den letzten 20 Jahren so gut kennengelernt hat. Anders als in deiner Zeit vergisst sie nichts mehr, kann sich unsere Präferenzen merken und lernt auch durch die Integration in die sozialen Medien, in E-Reader und Internetbrowser, wer wir sind und was wir denken.

Sie liest alle Zeitungsartikel mit und schaut sich jeden Film mit uns an. Sie registriert alle Informationen, die wir aufnehmen und fügt diese automatisch unserem digitalen Gedächtnis hinzu. Viele von uns lassen alle ihre Gespräche aufzeichnen, und die meisten von uns bitten ihre digitale Assistenz täglich, kurze Lerneinheiten in den Arbeitsalltag zu integrieren. Jedes Lehrbuch, jedes e-Learning-Tutorial passt sich unseren Bedürfnissen und Sprachgewohnheiten an. Verstehen wir etwas nicht, erklärt es die Assistenz gemäss unserem Vorwissen und uns vertrauten Beispielen. 

Sie weiss, was wir wissen und was nicht, ist mit unseren Lerngewohnheiten und Interessen vertraut. Das erlaubt ihr, uns Bücher, Filme, Ausstellungen und Weiterbildungen zu empfehlen, die genau zu unserer Lebenssituation und unseren Interessen passen. Diese Vorschläge passen so gut, weil die KI Millionen von Nutzenden täglich begleitet und wir mit ihr besprechen, mit wem sie unsere Lern-, Arbeits- und Interessenprofile abgleichen kann. Besucht eine Referenzperson eine spannende Ausstellung, so wird uns diese automatisch vorgeschlagen.

Dieses enge Verschmelzen bedingte aber nicht nur, dass die KI uns und unsere blinden Flecken ganz präzise erfasste. Genauso wichtig war unser Vertrauen in die Maschinen. Qualität und Datenethik der Anbieter:innen mussten ausgezeichnet sein und die meisten von uns haben sich mittlerweile für einen europäischen digitalen Lebensbegleiter entschieden. Viele von uns möchten nicht mehr von anderen geopolitischen Blöcken abhängig sein und bekennen sich an meisten zu den Werten europäischer KI-Anbieter:innen.

Unsere Lösungen auf eure Ängste

Rückblickend war die Epoche zwischen 2025 und 2030 eine stürmische Zeit. Was haben wir getan, um nicht in der schlimmsten aller Welten zu landen?

Viele glaubten, KI würde Berufseinsteigenden künftig alle Jobs wegnehmen. Wir begannen sehr schnell, KI-Nutzungsschulungen in sämtliche Aus- und Weiterbildung zu integrieren. Zugleich wurde der Ruf nach Reflexion laut: Wir lehrten junge Menschen nicht nur KI zu nutzen, sondern diskutierten gemeinsam über Chancen und Risiken einer KI-Zukunft. Berufseinsteigende reagierten auf die Bedrohungen durch KI, indem sie neben KI-Kenntnissen besonders jene Fähigkeiten betonten, die Maschinen fehlen – zum Beispiel Empathie, Humor, Szenewissen, kulturelles Gespür, die Produktion von originellem, hochwertigem und kritischem Content.

Einige Unternehmen verdummten und gingen ein. Smarte Unternehmen und vorausschauende Mitarbeitende erkannten, dass sie bald ihre Innovationskraft verlieren würden, wenn sie den KIs blind vertrauten. Die einen Arbeitgeber:innen reagierten mit Offline-Tagen, die anderen setzten wieder mehr auf Weiterbildungen, in denen Menschen von ihren Erfahrungen und ihren Visionen berichten. Als Gesellschaft steuerten wir dem Datenraub beziehungsweise der möglichen Verdummung der KI mit Mikro-Entschädigungen für Content-Lieferant:innen entgegen. Wenn KI heute auf unsere Texte, Analysen und Fotos zugreift, werden wir für unsere Texte, Fotos und Inhalte automatisch in einer Kryptowährung entschädigt.

Die Polarisierung der Entschädigung von Wissensarbeitenden beschäftigt uns bis heute. Während es ein paar wenigen klugen Denker:innen mithilfe von KI im Mikro-Unternehmen gelingt, Millionen zu erwirtschaften, wurden viele nicht so originelle und lernbereite Wissensarbeitende in weniger attraktive Berufe verdrängt. Erste sind häufig global tätig, auch weil die KI heute Gespräche, Texte und Videos automatisch «instant» in allen Sprachen übersetzt. Ich arbeite zwar auf Deutsch, erreiche aber auch Menschen in China, Japan und Usbekistan. Um dem Auseinanderdriften der Einkommen entgegenzuwirken, bekennen sich viele Unternehmen heute freiwillig zu einem Lohnband zwischen tiefsten und höchsten Löhnen und weisen dieses in Stelleninseraten und Geschäftsberichten aus.

Meine Investition in mich selbst

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was in einer KI-Zukunft entscheidend ist: Meine Kreativität und meine Energie. Nur so gelingt es mir bis heute, origineller als die KI zu lösen und willig zu bleiben, mich jedes Jahr wieder von vorne mit den neusten Fähigkeiten der KI vertraut zu machen. 

Was mir dabei hilft, jung zu bleiben? Ich reise regelmässig, um die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Ich halte Tiere, um Abstand zu den Bildschirmen zu halten und mich ganz im Moment zu fühlen. Und ich koche und esse mit meinen Liebsten, um nicht zu vergessen, auf was es in einem guten Leben wirklich ankommt: auf sinnliche Erlebnisse, aufs Teilen von Gefühlen und Gedanken und die gemeinsame Zeit, so unspektakulär diese auch sein mag. Das alles ist wichtiger als Reichweite und Status.

«Für herausragende Lösungen braucht es eingespielte Mensch-KI-Teams. Mensch und Maschine treiben sich in der engen Zusammenarbeit gegenseitig zu Spitzenlösungen an.»
Dr. Joël Luc Cachelin

Erstmals veröffentlicht am: 22.10.2025
 

Autor:in: Dr. Joël Luc Cachelin

Zur Person

  1. Dr. Joël Luc Cachelin (1981) ist ein Schweizer Futurist. 2009 gründete er die Wissensfabrik, um Unternehmen in Zukunftsfragen zu begleiten und zu beraten. Sein Wissen bringt er in Expertengremien ein, darunter in die Beiräte des Staatslabors und des Besuchszentrums der Schweizerischen Nationalbank. Grundlage seiner Arbeit bildet ein Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen. 2021 schloss er sein Zweitstudium mit einem Master in Geschichte an der Universität Luzern ab.

  2. Die Wissensfabrik inspiriert, begleitet und berät in Zukunftsfragen. Sie bietet Studien, Buchprojekte, Vorträge, Beratung und die Mitarbeit in Entwicklungs- oder Innovationsprojekten an. In der Wissensfabrik entstehen Bücher. Zuletzt: «Update_25 Wie Künstliche Intelligenz gesellschaftlichen Wandel anstösst» (Stämpfli, 2025).

Eine Kolumne aus der Zukunft

Im Auftrag des Kaufmännischen Verbands Schweiz hat sich der Schweizer Futurist und Gründer der Wissensfabrik Dr. Joël Luc Cachelin mit unseren Fokus-Themen auseinandergesetzt. Um die Trends aus dem Hier und Jetzt besser zu verstehen, wagt er eine Expedition ins Jahr 2047 und bricht unsere traditionellen Denkmuster auf. Die Kolumne [Post aus der Zukunft] wurde viermal im Laufe von 2022 publiziert und wird im Jahr 2025 weitergeführt. 

Für den Kaufmännischen Verband Schweiz steht fest: Egal was die Zukunft bringt, wir stehen unseren Mitgliedern sowie Arbeitnehmer:innen im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Bereich und im Detailhandel tatkräftig zur Seite und begleiten sie durch die Zeitreise.

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