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Voller Einsatz bis 65 und dann von einem Tag auf den anderen zuhause? Für viele ein zu abrupter Wechsel. Ein HR-Fachmann erzählt, wieso er eine sogenannte Bogenkarriere bevorzugt.

Am Freitag schnürt Gustav Lee häufig die Wanderschuhe und geht mit Frau und Hund in die Berge. Oder er unternimmt etwas mit seinen Enkeln. Vor einem Jahr hat der 62-Jährige sein Arbeitspensum von 90 auf 70 Stellenprozente zurückgefahren. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere hatte er im Personalwesen von Swiss Life ein Team von 10 Personen geführt und zudem regelmässig Projekte geleitet. Zum Beispiel war er für die Evaluation einer neuen HR-Informatiklösung zuständig. «Die letzten zwei, drei Jahre in dieser Funktion waren stressig», blickt Lee zurück. «Ich war fast permanent an Sitzungen.» Mit 60 habe er in der Firma deshalb signalisiert, dass er künftig etwas kürzer treten möchte. «Ich habe gemerkt, dass ich nach Belastungen mehr Zeit brauche, um mich zu erholen.» Generell sei er zwar noch gesund und fit, sagt der sportliche Mann. Doch er stelle fest, dass die Arbeitsprozesse mit der zunehmenden Digitalisierung hektischer geworden seien. «Ich will meiner Gesundheit Sorge tragen und auch mein Privatleben mehr geniessen.»

Modell ohne Rentenkürzung (bei Swiss Life)

Seit seiner KV-Lehre hatte sich der Zürcher Oberländer beruflich stetig weiterentwickelt. Er studierte Betriebswirtschaft, bildete sich im Bereich Human Resources, Prozess- und Projektmanagement weiter und arbeitete bei verschiedenen Firmen. Bei Swiss Life ist er mittlerweile seit 22 Jahren. Die Versicherung hat vor zwei Jahren am Standort Schweiz das sogenannte Modell 58+ definitiv eingeführt. Es richtet sich an Mitarbeitende ab 58 Jahren, die zeitlich oder inhaltlich kürzertreten wollen. Sie können ihr Arbeitspensum reduzieren oder ihre Führungsfunktion abgeben, ohne dass die künftige Rente gekürzt wird. Denn sowohl Arbeitgeberin als auch Arbeitnehmer zahlen ihre Beiträge in gleicher Höhe weiter. Mitarbeitende können zudem ihr Rentenalter flexibel gestalten und auch bis zum Alter von 70 Jahren weiterarbeiten.

«Als Anbieter von Vorsorgelösungen wollen wir auch auf die individuellen Bedürfnisse unserer älteren Mitarbeitenden eingehen», sagt Mediensprecherin Fabienne Schneider. Zudem profitiere gleichzeitig das Unternehmen: Die Erfahrungen und Kontakte langjähriger Mitarbeitender gehen nicht von einem Tag auf den anderen verloren, der Wissenstransfer wird sichergestellt und Nachfolgeregelungen können besser angegangen werden. Immer mehr ältere Mitarbeitende würden von den flexiblen Arbeitsmodellen Gebrauch machen, sagt Schneider. Zudem beschäftigt das Unternehmen mit gut 2400 Beschäftigten in der Schweiz auch 20 Personen, die das ordentliche Rentenalter bereits überschritten haben.

«Ich habe gemerkt, dass ich nach Belastungen mehr Zeit brauche, um mich zu erholen.»
Gustav Lee

Nicht nur zeitlich reduzieren

Auch Gustav Lee schliesst nicht aus, nach dem 65. Geburtstag noch ein wenig in der Firma zu bleiben. «Wenn es mir weiterhin gefällt und ich dann noch fit bin: wieso nicht», sagt Lee. Vorderhand geniesst er aber einfach mal, dass er mehr Freizeit hat. Am Montag arbeitet er einen halben Tag zuhause. Von Dienstag bis Donnerstag geht er ins Büro, wo er den persönlichen Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen schätzt – zumindest in normalen Zeiten. Seit dem Frühling sind auch bei Swiss Life viele im Homeoffice.

Eine neue Funktion mit kleinerem Aufgabengebiet zu finden, sei nicht ganz einfach gewesen, blickt der HR-Fachmann zurück. Denn nur das Pensum zu reduzieren, sei in der Regel nicht zielführend. «Dann macht man einfach dasselbe in kürzerer Zeit und hat mehr Stress.» Eine Neustrukturierung der HR-Organisation bot ihm vor einem Jahr die Chance, seine Abteilung auf drei Mitarbeitende zu verkleinern. Er suchte das Gespräch mit seiner Vorgesetzten und skizzierte seine Idee. «Man muss wollen und selber die Initiative ergreifen», hat Lee die Erfahrung gemacht.

Und klar: Verantwortung und Aufgaben abzugeben, sei gewöhnungsbedürftig gewesen, räumt Gustav Lee ein. Sowohl für ihn selber, als auch für andere. «Einige Kollegen reagierten überrascht. Ich musste zu Beginn viel erklären.» Zudem müsse er aufpassen, dass er nicht doch wieder Spezialaufgaben übernehme, die sein Teilzeit-Pensum sprengen, erklärt Lee. Weil er die Firma und die HR-Organisation gut kennt und viel Fachwissen mitbringt, werde er ab und zu angefragt. «Es freut mich, dass mein Know-how gefragt ist. Aber ich musste lernen, nein zu sagen.»

Veröffentlicht am: 01.12.2020

«Einige Kollegen reagierten überrascht. Ich musste zu Beginn viel erklären.»
Gustav Lee

Verschiedene Wege in den Ruhestand

Teilzeitarbeit

Kürzere Arbeitstage oder mehr Freitage.

Fliessende Pensionierung

Senkung des Beschäftigungsgrades vor der Pensionierung, im Gegenzug Verlängerung der Tätigkeit über das Pensionsalter hinaus.

Bogenkarriere

Ältere Mitarbeitende geben allmählich Verantwortung ab und übernehmen andere Funktionen und Aufgaben innerhalb der Firma. Zum Beispiel treten sie von einer Führungsfunktion zurück und haben stattdessen fortan eine Projektleitung inne. Dieser Schritt ist oft auch nötig, um das Pensum zu reduzieren.

Generationentandem

Ein jüngerer und ein älterer Mitarbeiter teilen sich eine Stelle und bringen dabei verschiedene Sichtweisen ein. Das Modell ermöglicht zudem Teilzeitarbeit und Wissenstransfer.

Mentoring

Ältere Mitarbeitende werden als Mentoren für Jüngere eingesetzt. Besonders für Führungskräfte geeignet.

Stafettenmodell

Schrittweise Übergabe belastender Aufgaben an eine nachfolgende Person, ev. auch verbunden mit der Übernahme weniger anspruchsvoller Tätigkeiten – also ein allmählicher Tausch der Funktionen.

Pool von Ehemaligen

Ehemalige Angestellte arbeiten als Berater, Mentorinnen oder an speziellen Projekten weiter. Sie stehen bei Spitzenbelastungen zur Verfügung. Das Pensum variiert von einzelnen Springereinsätzen bis zur fixen Teilzeitstellt.

Lebensarbeitszeit

Bereits früher im Arbeitsleben wird ein Guthaben an Zeit oder Geld angespart, das später in Form von längeren Ferien oder einer Arbeitszeitreduktion bezogen werden kann. (13. Monatslohn, Treueprämie, übergesetzliche Ferienwoche, Sonntags- und Nachtzulagen etc.)

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Autor

  • Andrea Söldi

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