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Profisportlerin in Brasilien

Natascha Honegger (24) gehört zu den erfolgreichsten Spielerinnen im Schweizer Frauenfussball. Die Torhüterin ist im Kader der brasilianischen Nationalmannschaft. Und hat vorher das KV gemacht.

Der Flug nach Brasilien war der blanke Horror. Die Maschine geriet in starke Turbulenzen. Natascha Honegger, brasilianisch-schweizerische Doppelbürgerin, war schon oft in ihre Heimat Rio gereist, aber einen solchen Flug hatte sie noch nie erlebt. Ihre Sitznachbarin klammerte sich weinend an sie, die meisten Passagiere übergaben sich, und Natascha dachte: Das war es wohl. «Zum Glück hatte ich mich von all meinen Liebsten verabschiedet», erinnert sie sich. Dabei hatte die 24-Jährige noch so viel vor und war äusserst zuversichtlich. Im Gepäck hatte sie nämlich das Aufgebot für eine Trainingseinheit als Torhüterin mit der brasilianischen Fussballnationalmannschaft – eine Sensation für die junge Frau.

Doch dann ging alles gut. Die Maschine landete sicher in Rio de Janeiro. Als Erstes rief Natascha ihre Mutter an und erzählte. Sie konnte kaum sprechen. Natascha Honegger, die in der Schweiz aufgewachsen ist, liebt ihre zweite Heimat, die Spontanität und Herzlichkeit der Menschen, den Zusammenhalt in den Familien. Am Flughafen wurde sie von mehreren Staff-Mitarbeitenden des Brasilien-Teams abgeholt. Küsse, Umarmungen, wie das üblich ist. «Ich fühlte mich wie zu Hause.»

In den Trainings dieselbe Herzlichkeit. Alle Spielerinnen begrüssten sie mit Freude. Natascha war vor dem ersten Training ziemlich nervös, war auf sich konzentriert. Eine etwas ältere Spielerin sprach sie an: «Hey, schön bist du da.» Es war Marta, der absolute Superstar der brasilianischen Nationalmannschaft, sechsfache Weltfussballerin des Jahres. «Ich konnte es kaum fassen. Marta spricht mit mir.»

Wie im Märchen

Die Karriere der Fussballerin aus Greifensee hört sich an wie ein Märchen: Zürcher Oberländerin schafft es ins brasilianische Nationalkader.  Schon immer liebte sie das Ballspiel. Ihr Vater nahm sie jeweils mit, als er seinen Sohn ins Training des FC Greifensee begleitete. Schon bald spielte auch Natascha mit den Jungs des Clubs mit und wechselte nach kurzer Zeit zum FC Schwerzenbach. Später kam sie zu den Frauen U13 des FC Zürich und durchlief dort alle Nachwuchsstufen – immer als Feldspielerin und noch nicht als Torwart. Als einmal ein Goalie verletzt war, kam Natascha zum Einsatz. Sie spielte mit Bravour. Fortan wurde sie je nach Bedarf als Torwart oder Feldspielerin eingesetzt. Erst als sie den Sprung in die U19-Nationalmannschaft schaffte, durfte sie nur noch im Tor spielen.

«Ich konnte es kaum fassen. Marta, der absolute Superstar der brasilianischen Nationalmannschaft, spricht mit mir.»
Natascha Honegger

Natascha Honegger wusste, dass sie in ihrem Leben auf Fussball setzen würde. Aber ihr war auch klar: Der Beruf ist ebenso wichtig, bei den Frauen noch mehr als bei den Männern. «Es kann immer etwas passieren. Du schaffst es am Schluss doch nicht, oder Verletzungen machen dir einen Strich durch die Rechnung.» Bei einer Versicherung absolvierte sie die kaufmännische Lehre, arbeitete während zwei Jahren als Kundenberaterin und durchlief anschliessend die einjährige Vollzeit-Berufsmittelschule. «Ich wollte auf jeden Fall vor einem möglichen Ausland-Engagement einen Abschluss erlangen, der mir später ein Studium ermöglichen würde.»

Nach einigen Jahren beim FC Zürich war es für Natascha an der Zeit, den Club zu wechseln. Ein Angebot des damals noch erfolgreichen FC Neunkirch kam ihr daher gelegen. Als der Club aufgrund finanzieller Probleme aufgelöst wurde, kam sie zu den Frauen des FC Basel und wurde aber bald einmal zum FC Luzern ausgeliehen. Dort gefiel es ihr so gut, dass sie definitiv zum Innerschweizer Verein wechselte.

Trainieren, studieren, pendeln

Diese Zeit war für Natascha Honegger extrem intensiv. Sie trainierte vier bis fünf Mal pro Woche in Luzern und absolvierte gleichzeitig die BMS in Winterthur. Das bedeutete: wenig Schlaf und viel pendeln. «In Greifensee war ich nur noch zum Schlafen.» In dieser Zeit reifte in ihr der Entschluss, ins Ausland zu gehen. «Ich wollte diesen Schritt wagen.» Sie erhielt mehrere Angebote von Clubs in Frankreich, Spanien und England. Schliesslich entschied sie sich für Paris FC. Die Stadt hatte sie schon immer fasziniert, zudem wollte sie Französisch lernen.

Rückschläge gehören zum Fussball. In Paris hatte Natascha anfangs viel Pech. Sie war häufig verletzt, zog sich in einem Boxtraining eine Hirnerschütterung zu – ihre dritte – und verlor ihr Selbstvertrauen. Alles war neu, Natascha fühlte sich schlecht, auch weil sie von bestandenen Spielerinnen hart kritisiert wurde. Sie begann an sich zu zweifeln. Aber Natascha Honegger ist eine, die kämpft. Wenn sie ein Ziel hat, gibt sie so schnell nicht auf. «Ich lernte, wie wichtig das Mentale ist, und sagte mir: Ich pack das jetzt.» Nach ihren Verletzungen gelang ihr die erfolgreiche Rückkehr aufs Feld, sie fand zur alten Form zurück. Und sie erhielt das Angebot, mit der brasilianischen Nationalmannschaft zwei Trainingswochen zu absolvieren.

Ein Glück kommt selten allein. Auch die Schweizer Frauen Nationalmannschaft interessierte sich für das Ausnahmetalent. Natascha musste sich entscheiden, denn: Wer einmal für ein Land spielt, darf nie mehr für ein anderes im Einsatz sein. Die junge Frau war zerrissen. Schweiz? Brasilien? Wie entscheiden? Der Riss ging durch die Familie. Ihre brasilianische Mutter plädierte für Brasilien, und ihr Vater hätte sie lieber im Schweizer Team gesehen. «Das war ein extrem schwieriger Entscheid.» Hilfreich für Natascha war die Unterstützung des Schweizer Nationaltrainers. Er sagt: «Lass dir beim Entscheiden Zeit. Und wenn für dich Brasilien stimmt, dann mach das. Ein solches Angebot kommt nur einmal im Leben.» Nach langem Überlegen entschied sich Natascha für Brasilien, weil ihr die Mentalität entspricht, ihr die etwas exzentrische Art des Fussballs gefällt und sie sich in Brasilien wohlfühlt. Und: «Sie gaben mir das Gefühl, dass sie mich wollen.»

«Sie gaben mir das Gefühl, dass sie mich wollen.»
Natascha Honegger

Ihren Entscheid hat Natascha bis heute nicht bereut. Zwar wurde sie 2019 noch nicht aufgeboten für die WM in Frankreich, dafür war ihr Berufsmaturitätsabschluss nicht gefährdet. Aber Natascha war immer in regem Kontakt mit Spielerinnen und Staff der Nationalmannschaft. Ihr Goalietrainer und die Sportpsychologin meldeten sich regelmässig bei ihr, betreuten sie aus der Ferne und motivierten sie. Natascha spürte, wie wichtig sie den Brasilianern ist. Im Februar 2020 hatte sie an einem internationalen Turnier ihren ersten Einsatz für Brasilien – gegen Holland. «Es war unglaublich. Ich gab alles, sagte mir, keiner kommt an mir vorbei, der Ball geht nicht rein.» Sie war die Jüngste auf dem Platz. Natascha, die als Person eher zurückhaltend ist, schrie und dirigierte das Team, war in Bewegung, zeigte Präsenz – und bewahrte die Brasilianerinnen dank keinem Gegentor vor einer Niederlage. «Es war ein unglaubliches Gefühl, ich war nun Teil des brasilianischen Teams.»

Wertvolle Erfahrungen

Natascha Honegger lebt und spielt nun seit eineinhalb Jahren in Paris. Sie fühlt sich wohl, hat sich an das Leben in der französischen Metropole gewöhnt und viel gelernt. Was ihr immer wieder auffällt: Wie unterschiedlich die französische Mentalität im Gegensatz zur schweizerischen sei. «Ich erlebe die Menschen als verschlossener», sagt sie. Und es ist ihr bewusst geworden, wie privilegiert sie ist, in der Schweiz aufgewachsen zu sein. «Bei uns funktioniert alles, wir haben eine hervorragende Infrastruktur, ein gutes Gesundheitssystem. Das sieht in Frankreich etwas anders aus.» Natascha wohnt zusammen mit zwei Spielerkolleginnen in Orly, in der Nähe des Trainingscenters.  Und ihr gefällt, dass in Frankreich der Frauenfussball einen grösseren Stellenwert als in der Schweiz hat. Sie kann von ihrem Lohn leben, die Spiele werden am Fernsehen übertragen.

Den Alltag in Frankreich erlebt sie als intensiv: zweimal trainieren pro Tag, Reisen zu den Spielstätten im ganzen Land. Natascha hofft, dass der reguläre Betrieb aufrechterhalten werden kann – und nicht wieder wegen Corona suspendiert wird. Den Lockdown im Frühling 2020 hat sie in der Schweiz verbracht, lebte während zwei Monaten bei ihrem Bruder, einer ihrer wichtigsten Bezugspersonen, in einer kleinen Wohnung in Zürich.

Aber nicht nur der Fussball, dem sie zurzeit alles unterordnet, ist ihr wichtig, sondern auch ihre andere berufliche Zukunft. Denn sie weiss: Fussball spielt frau nicht ewig. Zudem will sie auch intellektuell gefordert sein. Natascha Honegger, die sich für Ernährung und Gesundheitsthemen interessiert, will an der Fernfachhochschule Schweiz mit dem Studium Ernährung und Diätetik beginnen. Dies wird ihr, zusammen mit ihrer Fussballkarriere und dem kaufmännischen Hintergrund, spannende Berufsmöglichkeiten eröffnen.

Erstmals veröffentlicht: 8.9.2020
Aktualisiert: 17.01.2022

«Bei uns funktioniert alles, wir haben eine hervorragende Infrastruktur, ein gutes Gesundheitssystem. Das sieht in Frankreich etwas anders aus.»
Natascha Honegger

Autor

  • Rolf Murbach

Fotos

  • Reto Schlatter

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